"Izmir?! Izmir, hörst du mich?" Lana saß über Izmir gebeugt und schlug ihm ins Gesicht.
"Hmm?" Izmir blinzelte verwirrt in die Dämmerung. Einen Moment hatte sein Verstand ausgesetzt, dann fiel ihm alles wieder ein und er fuhr hoch. "Was ist los?!"
"Gott sei Dank, dir ist nichts passiert! Die Mitmenschen sind weg."
Izmir sah sich auf der Lichtung um. Die unzähligen kleinen Kreaturen, die eben noch die Umgebung bevölkert hatten, waren verschwunden. Nicht einmal Spuren im Gras zeugten von ihrer Anwesenheit. Plötzlich erschien ihm die Begegnung wie ein besonders eindrücklicher Traum. Waren sie überhaupt jemals hier gewesen? Er sah an sich hinab und entdeckte das Medaillon um seinen Hals. Es konnte kein Traum gewesen sein. "Die Mitmenschen haben uns verlassen. Sie gehen in Frieden.", sagte er.
Lana half ihm hoch und sie liefen zu den anderen hinüber, die am Rande der Lichtung warteten. Razdan lief auf Herr Mards Stock gestützt im Kreis, wodurch der Stock sich immer tiefer in die Erde bohrte.
"Das war ja eigenartig.", fasste Frau Schlotterbeck die Begegnung zusammen. "Wir sollten uns auf den Rückweg machen, bevor es ganz dunkel wird."
Die Sonne hing schon wieder tief am Horizont. In ein paar Minuten würde sie zischend im Meer versinken. So hatte Nora es Izmir mal erklärt.
Razdan riss den Stock aus der Erde. "Folgt mir! Ich hab das dritte Auge!""'A3tine el sikine', das war mein Satz, heute sitz in in nem Daimler. Ich hab die Straße in den Knochen, was für real, ich hab geblutet und ich hätte auch getötet für Berlin!"
"Razdan, kannst du bitte einfach mal deine Klappe halten?", fragte Lana genervt.
Der Bus rumpelte knirschend über holprige Straßen.
"Ach, ich schilder deine Denkweise, bitte denk leise, prinzipiell seid ihr alle feige!", rappte Razdan. "Ich ging niemals über Leichen wie du, verkaufte niemals meine Seele wie du, wechsel niemals meine Meinung wie du, Bruder ich denke nach bevor ich rede, Ehre aus der Kehle, der Rapper mit der Löwenmähne..."
"RAZDAAAAN!", schrie Lana.
Izmir schaute zu Herrn Mard, der vorne auf dem Beifahrersitz saß. Er hatte die Augen geschlossen, doch Izmir sah, dass er grinste.
"Dieses Leben ist wie Einzelhaft, ich zieh die Knarre erst wenn der Mond in mein Ghetto kracht!"
Eine Taube krachte mit einem lauten "Bong!" gegen die Windschutzscheibe und hinterließ einen Abdruck ihres überraschten Taubengesichts.
"Fred, halt an!", rief Lana.
Fred legte eine Vollbremsung hin und sie stiegen aus dem Bus. Izmir sah sich auf der Straße um. Sie waren mitten in einem Dorf. Neben der Straße war der Dorfplatz, wo ein paar alte Säufer im Licht der Laternen um den Bunnen hingen, sonst war alles ruhig und sah eher verlassen aus. Einige Läden an der Hauptstraße hatten die Schaufenster vernagelt.
Lana lief auf der Straße zurück, hob behutsam die Taube auf und wickelte sie ihr T-shirt. "Sie hat sich bestimmt den Flügel gebrochen!", sagte sie.
"Ja, oder ein Schädel-Hirn-Trauma!" Izmir konnte förmlich bunte Sterne und Spiralen sehen, die um ihren Kopf kreisten, wie in einem Comic.
"Na, und jetzt?", fragte Fred, der sich ins Licht der Warnblinker stellte. "Willst du sie auf deinem Kopf tragen und mit Körnern füttern? Kommt dir vielleicht gleich noch das Seelenpferd zugelaufen?"
Lana verdrehte die Augen.
Razdan kam aus dem Bus getaumelt. "Ey Leute! Ich kenn diesen Ort! Lasst uns zum Landhaus von meinen Eltern fahren, das ist nicht weit von hier!"
Die Idee, an diesem Abend nicht mehr weiterfahren zu müssen und einen Platz zum Übernachten zu haben erschien ihnen allen gut.
"Aber haben deine Eltern nicht was dagegen, wenn wir alle dort ankommen?", fragte Frau Schlotterbeck.
"Nee nee, die freuen sich bestimmt!" Razdans Hund bellte und wollte die Taube anfallen. "Master Chief!"Razdans Eltern freuten sich.
"Ach, wir haben gar nicht mit Besuch gerechnet, wir sind ja noch am Renovieren, wisst ihr? Aber kommt ruhig rein, es ist noch Suppe da!", rief Razdans Mutter fröhlich und hörte dann für eine Weile nicht mehr auf zu reden. Razdans Vater war ganz anders, als Izmir ihn sich vorgestellt hatte, ein ordentlicher Mann, der sein kariertes Hemd in die Hose gesteckt trug und mit einer großen Brille intelligent aussah. Er nickte und lächelte freundlich und zeigte ihnen, wo sie ihre Schuhe ausziehen und ihre Sachen abladen konnten.
Durch den kleinen Flur gelangte man in ein exotisch eingerichtetes Wohnzimmer mit einer gemütlichen Couch und Fernsehecke. Izmir betrachtete fasziniert die bunte im Dschungelmotiv bemalte Tapete voller Blüten und Lianen. Über dem langen Esstisch im Kronleuchter hing ein ausgestopfter Affe. Izmir riss die Augen auf. "Ist der echt?"
Razdans Vater lächelte freundlich. "Nein, keine Sorge. Ich habe ihn aus der aufgelösten Museumskollektion im Naturkundehaus. Sonst wäre er nur weggeworfen worden."
Auf die Idee sich tote Tiere über den Esstisch zu hängen war Izmir noch nicht gekommen. Durch eine offene Schiebetür betrat er die geräumige Terasse, über die man den Hanggarten und das Tal überblicken konnte. "Cool!", sagte Izmir zu sich selbst.
"Yo fühlt euch ruhig wie zu Hause und macht es euch bequem!", meinte Razdan.
Razdans Eltern würfelten ein improvisiertes Abendessen aus Resten und Suppe zusammen und boten es den Gästen an. Erstaunlicherweise machte es ihnen überhaupt nichts aus, dass plötzlich fremde Leute in ihrer Tür erschienen und untergebracht werden mussten. Izmirs Vater hätte da längst die Krise bekommen. Aus Schuldgefühl ging Izmir in die Küche um bei der Essenszubereitung zu helfen.
Razdan suchte dort gerade nach Hundefutter.
"Wenn du bescheid gesagt hättest, dass du den Hund bringst, dann hätten wir ja was kaufen können! Jetzt haben wir fast nichts mehr da!", sagte Razdans Mutter, während sie die Suppe auf Teller verteilte.
"Äh was?", fragte Razdan.
"Wir heißt du denn?", fragte Razdans Mutter.
"Ich bin Izmir. Aus Razdans Klasse."
"Ah, Izmir! Schön, dich kennenzulernen! Ich bin die Erika."
Razdan füllte Hundefutter in eine Schüssel und klatschte in die Hände. "Master Chief, wo ist das Hundefutter? Ja such das Hundefutter!"
"Sagt mal, darf ich euch beide was fragen?"
Izmir nickte.
"Geht es eurem Lehrer gut? Er sieht ein bisschen...lädiert aus."
Razdan lachte. "Ja, ihm geht's super gut. Er hat sich nur mit den falschen angelegt!" Er nahm sich von der Ablage eine Birne und wollte aus der Küche gehen, doch Erika hielt ihn am Arm fest.
Razdan grinste sie an.
"Sag mal Razdan, hast du gekifft?"
"Nee nee!"
"Im Wald waren so bunte Pflanzen und er hat davon gegessen.", erklärte Izmir.
Erika musterte ihren Sohn. "Ohjemine."Razdan stand im Keller vor dem Billiardtisch und fuchtelte mit dem Stab herum. "Es ist so krass! Ich bin gleichzeitig neben mir, über mir und mein Vater!" Er hatte sich die Brille seines Vaters genommen, als der nicht hingesehen hatte und stieß mit dem Stab die Billiardkugeln an. Ein paar Kugeln wurden zum Rand geschleudert, zwei fielen in Löcher, der Rest bewegte sich nicht. Izmir versuchte, eine Billiardkugel aus dem Tisch zu holen, die Stecken geblieben war. Nach ein paar Versuchen brach er aus versehen die Schutzverkleidung ab und Billiardkugeln regneten auf ihn. "Aua!"
Lana saß unbeeindruckt daneben. Sie schlürfte einen Smoothie und winkte Razdans Vater, der im Schlafanzug die Treppe hinunter kam.
"Razdan!", rief er leise, fast schon singend. "Es ist Schlafenszeit! Hast du wieder meine Brille genommen?"
Razdan nahm theatralisch die Brille ab. "Vater, ich habe Dinge gesehen!"
"Warum geht ihr nicht ins Bett? Wir haben eine Matratze in dein Zimmer gelegt und eine Person kann im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen."
Izmir folgte Razdan nach oben und sie machten sich bettfertig. Die Wände in Razdans Zimmer waren gepflastert mit Postern von Bands und Izmir fühlte sich von all den Augen, die ihn anstarrten etwas verunsichert. Razdan schien es kein bisschen zu stören.
"Soll ich das Fenster offen lassen?", fragte er. Die Nacht war kühl, doch im Zimmer hing noch die Hitze des Tages und es war stickig. Izmir nickte.
"Yo, mach einfach zu wenn's dich stört." Razdan ließ sich auf sein Bett fallen und war sofort eingeschlafen.
Izmir rollte sich auf der Matratze neben dem Bett zusammen. In der Stille der Nacht fluteten die Eindrücke des Tages sein Bewusstsein. Er war den Mitmenschen begegnet. Er hatte mit dem Häuptling gesprochen. Die Mitmenschen waren fort.
Waren sie wirklich fort? Würden sie jemals wiederkehren und würde er oder ein anderer Mensch sie je wieder zu Gesicht bekommen? Wie würde das Leben in der Stadt nun aussehen, wenn sie weg waren? Wie würde es in der Schule sein? Hatte nicht der Unterricht zum großen Teil aus falschen Informationen über die Mitmenschen bestanden? Er musste ihnen die Wahrheit erzählen.
Doch...Izmir wurde klar, dass er die Wahrheit immer noch nicht wusste. Nicht wirklich zumindest. Er wusste immer noch nicht viel über die Mitmenschen. Er hatte sie gehen sehen. Er wusste, dass sie nicht mehr angreifen würden. Aber sonst?
Izmir griff nach dem Medaillon um seinen Hals. Wenn er die Augen schloss und an nichts bestimmtes dachte, spürte er wieder das Pulsieren des Herzschlags. Er erinnerte sich an das Versprechen der Mitmenschen, Frieden zu bewahren. Er musste sich an das Versprechen halten.
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Die Ankunft der Mitmenschen
AventuraIzmir erlebt eine Zeit, in der die Gesetze der Welt sich wandeln das Alte und Neue Wissen sich vermischen.