Weiches Holz

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In der Nacht hatte es frische Bomben geregnet und tiefe Krater auf der Kreuzung zur Innenstadt hinterlassen. Wegen der Angriffe so spät in der Nacht war an diesem Morgen wenig los, nur ein Demonstrationszug gegen die Mitmenschen zog vorbei und ein Rentner verteilte fröhlich bunte Flummis von seinem Fahrrad. Die Polizei hatte wegen der Krater die Straße gesperrt, doch ein paar Leute, die mit dem Auto zur Frühschicht unterwegs gewesen waren, hatten leider Pech gehabt und waren mit ihren Autos in die Krater gefallen. Izmir sah am Kraterboden drei Menschen beim Angeln in einer Pfütze, die sich die Zeit vertrieben bis der ADAC kam, um ihre Autos rauszuziehen. Einer winkte Izmir zu. Izmir winkte zurück.
Er hatte Rüdiger versprochen, einen Brief für ihn in den Briefkasten zu werfen. "Das Faxgerät macht schon wieder Faxen!", hatte Rüdiger erklärt. Dann hatte er sich an den Schreibtisch gesetzt und mit Hilfe von Schiefertafel und Abakus die Rechnungsbeträge für die neuen GGM-Mitglieder zusammengezählt. So hatte er es in der Ausbildung gelernt, hatte er gesagt, die Jugend von heute hätte natürlich viel modernere Methoden.
Izmir brauchte eine Weile bis er einen Briefkasten fand, der nicht zerbeult war. Schon eigenartig, wie schnell man sich an merkwürdige Umstände gewöhnt, dachte Izmir. Eigenartig...welcher Teenager drückte sich denn so aus? Er hatte wohl zu viele alte Bücher gelesen.
Ohne einen bestimmten Plan lief Izmir durch die Straßen und fand sich plötzlich vor dem Schulgelände wieder. Er musste sich eingestehen, dass er die Schule vermisste - nicht unbedingt die strengen Lehrer und die Tests, aber er vermisste das Lernen zusammen mit seinen Freunden. Das Schultor war abgeschlossen, aber vielleicht war ja noch jemand hier und er konnte sich in der Bibliothek umsehen. Er wollte noch nicht zurück zur GGM gehen.
Behutsam kletterte Izmir über den Zaun. Auf dem Schulhof war es friedlich und er hörte sogar die Vögel zwitschern. An Schultagen war es hier viel zu Laut, um irgendein Geräusch der Natur zu hören. Er ging an den Fahrradständern vorbei. An der Rückwand lehnte Simon und rauchte unauffällig eine Zigarette. Neben ihm im Gras hockte ein Berner-Sennenhund. Beide trugen Sonnenbrillen. Izmir winkte ihm zu. Er hatte Simon schon immer sonderbar gefunden, aber dass er schon rauchte hätte er nicht gedacht. Doch Simon zu sagen, dass er etwas lassen sollte, brachte ungefähr so viel wie Eier zu trennen und sie dann wieder zusammenzuschütten.
Der Haupteingang war abgeschlossen, aber Izmir kannte eine Kellertür, die meistens offen war. Schnell schlüpfte er in das Gebäude. Um den alten Opa im Keller zu meiden, eilte er zielstrebig hinauf ins Erdgeschoss. Er schlich durch die Eingangshalle. Als er an der Tür zum Sekretariat vorbeikam, hörte er ein keckerndes Lachen nach draußen dringen. Er spähte durch das Glas und sah Frau Krille, die drinnen saß und auf dem Bildschirm eine Serie anschaute. So hatte sie sich ihren Job bestimmt schon immer vorgestellt.
Izmir ging weiter und betrat die Bibliothek. Die Regale waren ausnahmsweise ordentlich sortiert und Izmir strich mit den Fingern über die Buchrücken. Niemand wusste, dass er hier war, das hieß, niemand würde ihn unterbrechen! Glücklich machte er sich auf die Suche nach der geeigneten Lektüre, als ihn ein Scharrgeräusch zusammenfahren ließ. Er drehte sich um und schaute zur Tür, hinter der sich der Bibliotheksraum für das Alte Wissen befand. Die Tür war nur angelehnt. Kurz war es still, dann hörte Izmir wieder ein Scharrgeräusch, begleitet von Schritten. Ein Windhauch fuhr durch den Raum und ließ die Papiere an der Pinnwand flattern. Wie hypnotisiert ging Izmir darauf zu. Waren die Mitmenschen in die Schule eingedrungen? Vielleicht war das seine Chance! Er konnte die Mitmenschen stellen und sie fragen, was sie mit Herrn Mard gemacht hatten! Aber was, wenn sie ihn töteten? Er brauchte eine Waffe!
Izmir griff nach einem großen Tafellineal an der Wand und hielt es wie ein Schild vor sich. Stück für Stück schlich er zur Tür vor. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, doch er würde nicht zurückweichen! Nein, heute war er mutig! Die Tür war nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt. Er hörte wieder das Schaben und Kratzen von drinnen.
Izmir atmete tief durch, sammelte all seinen Mut zusammen und trat dann energisch gegen die Tür. "KEINE BEWEGUNG!", schrie er.
Die Tür flog auf und knallte innen gegen den Heizkörper. Izmir schrie vor Schreck auf, als Frau Schlotterbeck von den Bücherkisten hochfuhr und ihrerseits vor Entsetzen kreischte.
Izmir ließ hektisch seinen Blick durch den Raum wandern, um nach Mitmenschen zu suchen, doch er konnte keine entdecken. Peinlich berührt ließ er das Lineal sinken. "Oh..."
Frau Schlotterbeck fasste sich ans Herz. "Meine Güte Junge, hast du mich erschreckt!"
"Entschuldigung...ich dachte die Mitmenschen wären hier..."
"Ha!", machte Frau Schlotterbeck. "Kommt das jetzt öfters vor? Darauf kann ich nämlich gerne verzichten! Was machst du überhaupt hier, es ist doch gar kein Unterricht!"
Izmir hatte keine Lust zu erklären, dass er ohne Erlaubnis in der Schule herumgewandert war. Er kniff die Augen zusammen und beschloss, einfach den Spieß umzudrehen. "Nein, was machen SIE hier?"
Seine Taktik schien sie nicht zu überzeugen, doch sie musste lachen. "Ich räume nur Bücher ein. Bücher sind ein schönes Geschenk zum Namenstag."
Der Satz kam Izmir irgendwie bekannt vor, so als hätte das schonmal jemand zu ihm gesagt. Ihm fielen die ganzen leeren Regale auf. "Kommen die alle weg?", fragte er und zeigte auf die Bücher in den Kartons.
"Ja.", sagte sie.
"Aber das sind doch alle Bücher über das Alte Wissen!"
Sie zuckte mit den Schultern. "Die Bibliothek für das Alte Wissen wird nicht mehr weitergeführt. Herr Mard ist weg und der neue Schulleiter möchte, dass ihr euch ganz auf euren Lernstoff konzentrieren könnt."
"Aber die Bibliothek für das Alte Wissen war doch auch Ihre Idee!"
"Ich finde es auch schade, aber Herr Kröger duldet das Projekt nicht mehr."
Izmir spielte mit dem Lineal. "Ich mag Herrn Kröger nicht."
Sie lächelte ihn an und räumte weiter Bücher ein.
"Mögen Sie Herrn Kröger?"
"Dazu habe ich keine Meinung."
Izmir verzog verwirrt das Gesicht. "Sie müssen doch eine Meinung dazu haben! Niemand mag Herrn Kröger! Er ist der strengste, gemeinste, geizigste, abscheulichste, respektloseste..."
"Okay!", unterbrach Frau Schlotterbeck ihn. "Sowas kannst du dir denken, aber vielleicht behältst du es lieber für dich. Wir beleidigen keine anderen Leute!"
Izmir blieb einen Moment stumm. Dann fragte er: "Frau Schlotterbeck? Das Neue Wissen beruht doch hauptsächlich auf den Theorien von verschiedenen Leuten, oder?"
Sie runzelte die Stirn. "Nun, ich bin keine Expertin darin. Aber ich denke schon. Es hat sich so Vieles geändert, dass wir oft einfach nicht mehr genau wissen, was wirklich stimmt. Darum muss sich jeder seine eigenen Gedanken machen."
Izmir überlegte. "Aber wenn es für die ganzen Theorien keine Beweise gibt, warum müssen wir sie dann lernen? Das ist doch dann eigentlich sinnlos. Ich könnte mir genauso gut auch eine Theorie ausdenken und sie anderen beibringen, aber ob es stimmt wüsste niemand."
Frau Schlotterbeck sah sich besorgt um.
"Das Alte Wissen trifft vielleicht auf heute manchmal nicht mehr zu, aber es beruht zumindest auf Beweisen und Fakten. Zum Beispiel habe ich mal in einem alten Buch gelesen, dass Hühner Eier legen und daraus Küken schlüpfen können und ich weiß, dass das stimmt, weil ich es selber mal gesehen habe. In einem neuen Buch stand an derselben Stelle nur etwas über die eierlegende Wollmilchsau."
"Und was willst du damit sagen, Izmir?", fragte Frau Schlotterbeck.
Izmir zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht ob es richtig ist, aber langsam habe ich das Gefühl, dass alles sinnlos war, was ich gelernt habe. Weil es meistens sowieso nicht stimmt. Das Neue Wissen sagt, dass wir uns unsere eigenen Gedanken machen müssen, aber das tun wir ja gar nicht! Wir glauben nur, was irgendwelche Leute sagen!"
Izmir war froh, seine Verwirrung in Worte fassen zu können.
Frau Schlotterbeck stand auf. Sie schloss die Tür und sah ihn ernst an. "Weißt du, was das Problem ist? Wenn du jetzt rausgehst und so etwas sagst, kann es sein, dass du dafür angegriffen wirst. Ich habe dich nur ausreden lassen, weil wir hier allein sind. Du hast da etwas sehr Wichtiges erkannt."
"Glauben Sie auch, dass alles sinnlos war was ich gelernt habe?"
"Nein, das glaube ich nicht. Nicht alles zumindest. Aber ich mache mir Sorgen, wohin das Neue Wissen uns führen wird. Herr Mard hat sich immer sehr dafür eingesetzt, die Theorien aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und darum haben wir auch die Bibliothek für das Alte Wissen erhalten. Du konntest in seinem Unterricht doch auch immer Fragen stellen, wenn dich etwas gestört hat, oder?"
Izmir nickte.
"Aber jetzt ist er weg und die Regelungen für das Neue Wissen sind strenger geworden. Wenn die Schulen wieder öffnen, dann weiß ich nicht, ob ich diese Ansichten noch vertreten kann." Sie seufzte. "Zum Glück bin ich Aktivlehrerin geworden."
"Aber warum wird alles so viel strenger?", fragte Izmir.
"Ich denke es liegt am Einfluss der GGM. Sie arbeiten mit der Regierung zusammen und wollen uns gegen die Mitmenschen schützen."
"Ich bin letztens einem alten Mann auf der Straße begegnet. Der hat gesagt, die Mitmenschen wären gar nicht böse. Er hat sie selbst getroffen! Aber dann wurde er mit Tomaten beworfen." Izmir blickte hinunter auf seine Schuhe.
Frau Schlotterbeck schüttelte den Kopf. "Es ist Wahnsinn!"
"Darf ich mir trotzdem ein Buch ausleihen? Ich will etwas lesen, das wirklich stimmt!"
"Ich würde dir gerne ein Buch ausleihen, aber die Bücher sind alle eingetragen und werden konfisziert."
"Schade." Izmir schmollte.

Izmir half Frau Schlotterbeck, die vollen Kisten nach draußen zu tragen, wo sie abgeholt werden konnten. "Es tut mir leid, was ich über Herrn Kröger gesagt habe. Seit die Angriffe angefangen haben, ist alles so seltsam geworden!", entschuldigte er sich.
"Schon gut." Frau Schlotterbeck stellte ihre Kiste ab.
Izmir blickte in den Hof und stellte fest, dass Simon nicht mehr hinter den Fahrradständern saß, sondern sich gerade auf dem Basketballfeld mit einem anderen Jungen prügelte. Er sah genauer hin und winkte dann fröhlich. "Hey, Razdan!"
Razdan hob die Hand und bekam von Simon einen Schlag in die Magengrube.
"Was ist denn da los?" Frau Schlotterbeck hatte die beiden entdeckt und rannte gestikulierend auf sie zu. "Aufhören! Sofort!"
Simon und Razdan unterbrachen die Prügelei. Razdan streckte die Hand nach Frau Schlotterbeck aus. "Frau Schlotterbeck, es ist alles cool!"
"Was ist hier los?"
"Wir haben uns verabredet, um unseren Streit nach alter Sitte beizulegen.", sagte Simon.
"Wir passen auch auf, wirklich!"
"Und was ist dann das?", fragte Frau Schlotterbeck und zeigte auf den Holzknüppel in Razdans Hand.
Razdan schwang den Knüppel. "Ach, das ist ganz weiches Holz!"
Simon nahm die Hand aus der Jackentasche und Izmir sah, dass er sich einen Handschuh mit Metallklauen an den Fingerspitzen übergezogen hatte.
"Also das geht überhaupt nicht! Ihr lasst das jetzt bleiben und geht beide nach Hause!"
"Wir machen auch Pausen!", beteuerte Razdan. "Und wenn einer am Boden liegt, wartet der andere bis er wieder aufgestanden ist!"
Frau Schlotterbeck schüttelte energisch den Kopf. "Auf keinen Fall! Du gibst mir jetzt das Holz und dann verlasst ihr beide das Schulgelände!"
"Aaaach, seien Sie doch mal bisschen entspannter!"
In diesem Moment ertönte eine Sirene direkt hinter dem Zaun. Izmir hielt sich die Ohren zu und stellte sich darauf ein, gleich in den Keller zu rennen, doch der Alarm kam von einem Polizeiauto, das mit quietschenden Reifen in der Einfahrt hielt. Zwei Polizisten und eine Nonne sprangen aus dem Wagen. Einer der Polizisten hielt ein Megafon in der Hand. "WIR SIND DIE POLIZEI! HÄNDE HOCH!"
Izmir und Frau Schlotterbeck hoben erschrocken die Hände. Razdan starrte die Polizei verwirrt an.
Die Nonne war um das Polizeiauto gerannt und zeigte aufgeregt auf den Berner-Sennenhund, der auf einem Grünstreifen ausgestreckt gemütlich ein Sonnenbad nahm. "Da ist er! Das ist mein Tobi!"
"Shit!" Simon raste hinüber zu dem Hund, schnappte ihn noch im Rennen und schwang sich mit dem Tier über eine Mauer.
"HALT! BLEIBEN SIE STEHEN!", schrie der Polizist mit dem Megafon.
Izmir nahm langsam die Hände herunter und sah zu, wie die Polizisten hinter Simon über die Mauer purzelten und sich ins Gebüsch schlugen. Die Nonne eilte ihnen hinterher, sah sich noch einmal verunsichert um und nahm dann einen anderen Weg um den Häuserblock.
Während Izmir und Frau Schlotterbeck immer noch völlig Perplex von den Ereignissen waren, warf Razdan den Knüppel in die Luft und fing ihn wieder auf. "EY SIMON WIR WAREN NOCH NICHT FERTIG!" Er verdrehte die Augen. "Seit Monaten nervt mich der Typ, klaut meine Sachen, zerbricht meine Lineale. Dann krieg ich ihn einmal dazu sich zu stellen wie ein echter Mann und dann haut der einfach mittendrin ab!"
"Weißt du etwas darüber, warum die Polizei ihn verfolgt?", fragte Frau Schlotterbeck.
"Nee. Der Typ ist ganz schön weird, mann. Es gibt bestimmt nen Grund." Razdan beugte sich zu Izmir und flüsterte: "Sein Bruder dealt mit Haschisch."
Frau Schlotterbeck seufzte. "Naja gut, ich lasse euch beide jetzt mal alleine. Ihr habt hoffentlich keinen Streit miteinander."
"No problemo!", meinte Razdan und legte sich lässig den Holzknüppel über seine Schulter.
Sie drehte sich um und lief zurück Richtung Schulgebäude.
"Yo, Izmir! Lange nicht gesehen! Ich hab gehört dein Haus wäre abgebrannt?"
"Ja.", sagte Izmir traurig. "Es wurde von einer Bombe getroffen."
"Scheiße mann, das tut mir leid. Ey wenn du willst kannst du mit zu uns kommen! Meine Eltern sind gerade weg und bereiten das Landhaus vor, damit wir dauerhaft dort wohnen können wegen den Angriffen in der Stadt, weißt du?"
"Danke, aber ich muss bei meiner Familie bleiben."
"Die kann doch auch mitkommen! Ist ne richtig nice Villa, da ist genug Platz für euch. Ich muss meine Eltern halt fragen, aber die haben bestimmt kein Problem damit!"
"Oh...", sagte Izmir. Er hätte das Angebot sehr gerne angenommen, aber er wusste nicht wie er Razdan erklären konnte, warum es nicht ging. "Also...mein Vater ist ja gerade weg und...ach ja, meine Mutter ist noch im Krankenhaus! Ich kann nicht weg, solange sie nicht gesund ist!"
Razdan fuchtelte mit dem Knüppel in der Luft herum. "Ja, verstehe. Aber ihr könnt auch später noch nachkommen. Frag einfach deine Eltern ob sie Bock haben!"
Izmir stimmte erleichtert zu. "Mach ich!"
"Ich geh jetzt Simon suchen. Die alte Ratte kommt nicht so leicht davon!"
Razdan ging davon und Izmir fragte sich, ob er vielleicht die Polizei rufen sollte, aber ihm fiel ein, dass die Polizei schon alarmiert war. Er kletterte wieder über den Zaun und ging pfeifend zurück zum GGM-Büro.

Die Ankunft der MitmenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt