Ein Vogel flog kreischend auf und riss Izmir aus dem Schlaf. Er sah sich um. Die Morgensonne schien durch die Busfenster. Die anderen schliefen noch. Razdan schnarchte leise. Fred hing auf dem Beifahrersitz mit dem Kopf auf der Armatur. Sie hatten die Sitze umgeklappt, um mehr Liegefläche zu zu bekommen. Es war nicht gerade bequem, aber besser als Izmirs letzte Nacht auf dem Schotter. Er betrachtete Lana, die neben ihm lag. Schlafend sah sie ganz harmlos aus. Nicht so genervt und hektisch, wie sie manchmal am Tag war.
Gedankenverloren strich Izmir ihr durchs Haar. Er ließ seinen Blick schweifen. Frau Schlotterbeck lag mit dem Kopf auf einer Chipstüte. Der Platz wo Herr Mard gelegen hatte war leer. Izmir erschrak. Wo war er hin? Sie waren gestern nur noch ein kleines Stück gefahren und am Ufer eines aufgestauten Flussbeckens hatten sie angehalten. Sie hatten Herrn Mard Schmerztabletten aus Lanas Tasche gegeben und er hatte die ganze Zeit nur geschlafen.
So leise wie möglich kroch Izmir zur Tür und schob sie einen Spalt weit auf, sodass er hindurchschlüpfen konnte. Er sprang barfuß hinunter ins taufeuchte Gras. Chief lag vor dem Bus und spitzte die Ohren, als Izmir vorbeiging.
"Morgen, Chief!"
"Wuff!", antwortete der Hund. Das sah Izmir genauso.
Izmir ging um den Bus herum und blickte aufs glitzernde Wasser. Dort entdeckte er Herrn Mard, der mit seiner Kleidung in das Flussbecken gestiegen war und im hüfthohen Wasser tiefer in den Fluss watete. Interessiert lief Izmir zum Ufer und setzte sich dort auf einen Stein. Er hielt lieber Abstand zum Fluss, denn er hatte Angst vor Krokodilen.
Herr Mard stieg tiefer ins Wasser. Es ging ihm schon bis zur Brust, dann bis über die Schultern. Im tiefen Wasser begann er zu schwimmen. Dann tauchte er ganz unter. Izmir sah an der Stelle Luftblasen aus dem Wasser steigen und musste grinsen. Er sah Chief am Ufer einer Taube nachjagen.
Das Wasser plätscherte ruhig vorbei. Eine Minute verstrich und Izmir begann, sich Sorgen zu machen. Er spähte aufs Wasser, doch er sah keine Luftblasen mehr aufsteigen. Gab es eine starke Strömung unter Wasser? War Herr Mard irgendwo hängen geblieben? Oder war er nach der Folter so verzweifelt, dass er sich ertränken wollte?
Izmir war kurz davor aufzustehen und um Hilfe zu rufen, als Herr Mard prustend wieder an der Oberfläche erschien. Izmir musste lachen.
Ein Schatten zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Schnell blickte er ans gegenüberliegende Ufer. Er sah wie die Zweige eines Gebüschs sich teilten, dann ein Funkeln und eine Gestalt, die davoneilte. Izmir stand auf. Herr Mard hatte es auch gesehen, denn er war still im Wasser und blickte zum anderen Ufer. Dann drehte er sich um und watete langsam zurück.
Er ging wie ein alter Mann. Das zerschlissene Hemd hing triefend über knochigen Schultern. Izmir fragte sich, wie lange die Mitmenschen ihn wohl gefangen gehalten hatten und wie lange er so aufgehangen ausharren musste. Herr Mard sah Izmir an. "Sie sind nahe.", sagte er.
Izmir nickte wissend.Sie konnten Fred überreden, Herrn Mard Kleidung von sich zu leihen. Herr Mard hatte das Angebot nur zögerlich angenommen, doch es war immer noch besser als seine Kleidung, die halb auseinanderfiel oder in einer Wolldecke herumzulaufen. Nun trug er ein pinkes Hemd auf dem YOLO Fun stand und eine kurze Spongebob-Hose mit kleinen Spongebobs darauf, die Astronautenhelme trugen. Die Farben und der Aufdruck minderten seine Begeisterung, falls das überhaupt noch möglich war, doch er fand sich schnell damit ab.
Fred briet draußen mit dem Campingkocher Speck während sie zusammen frühstückten.
Razdan frühstückte Chips und Cola und puhlte dabei seinem Hund im Maul herum, was alle ignorierten.
Izmir kaute auf einem Buttertoast herum.
"Was machen wir heute?", fragte Razdan. "Begegnen wir echten Mitmenschen-Hooligans?"
"Ich denke das müssen wir nicht mehr.", entgegnete Izmir. "Es war ein Fehler hierher zu kommen! Wir sollten zurück in die Stadt fahren."
"Hm, aber wir hätten doch Herrn Mard nicht gefunden.", sagte Lana.
Izmir blickte zu Boden. Er fühlte sich plötzlich sehr schlecht. "Ihr versteht das nicht. Wenn ich Herrn Mard nicht auf die Idee gebracht hätte zu den Mitmenschen zu forschen, dann wäre das alles nicht passiert!"
Herr Mard sah von seinem Frühstücksbagel auf. "Du hast keine Schuld an irgendwas. Es war meine Entscheidung der Sache auf den Grund zu gehen und es war auch nötig."
Izmir sah Herrn Mard verzweifelt an. "Aber die Mitmenschen haben Sie gefoltert!"
"Es waren nicht die Mitmenschen!"
"...was?"
Alle Augenpaare richteten sich auf Herrn Mard.
"Ich war bei den Mitmenschen. Ich habe eine Anleitung aus einem alten Buch befolgt, um sie zu rufen. Erst hat es nicht geklappt, aber später in der Nacht sind sie gekommen und haben mich eingeladen."
"Sie haben deine Wohnung zerstört!", sagte Frau Schlotterbeck.
"Besonders vorsichtig waren sie nicht. Ich bin losgegangen, um sie zu suchen und ich habe sie gefunden." Er nippte zufrieden an seinem Getränk. "Dann kam die GGM, um sie zurückzudrängen. Ich habe versucht sie zu verteidigen und zu verhandeln, aber sie haben mich gezwungen, mit ihnen zu kommen. Soweit ich weiß haben die Mitmenschen das später nicht mehr auf sich sitzen lassen und die GGM-Zentrale gestürmt. Die Leute von der GGM mussten fliehen und retten was noch zu retten war. Dabei haben sie mich im Keller gelassen."
"Die GGM hat Sie gefangen gehalten?!", rief Izmir überrascht.
Herr Mard nickte.
"Warum?!"
"Sie wollten von mir Pläne von den Mitmenschen hören, irgendwelche ausgeklügelten Kampftaktiken und Systeme zur Machtübernahme, die sie wahrscheinlich gar nicht haben und von denen ich nichts wusste. Deswegen haben sie versucht die Antworten mit Gewalt aus mir herauszukriegen. Ich hab angefangen Sachen zu erfinden, aber sie waren nicht zufrieden. Zum Schluss haben sie mich im Keller aufgehängt und..." Herr Mard schwieg. "Sie haben gesagt ich wäre zur dunklen Seite übergelaufen und nun einer von ihnen."
Izmirs kombinierte die Umstände in seinem Kopf. Seine Augen weiteten sich. "Mein Vater! Hat mein Vater Sie gefoltert?"
Herr Mard runzelte die Stirn. "Nein, das wäre unangenehm geworden beim nächsten Elternabend." Er sah auf seinen Bagel herunter. "Es war ein älterer Mann. Mit grauen Haaren."
"Karl!", flüsterte Izmir.
Im Bus herrschte betretenes Schweigen. Frau Schlotterbeck war der Appetit vergangen. "Aber sowas geht doch nicht, das ist eine Straftat! Das verstößt gegen die Menschenrechte!"
"Und die Genfer Konvention!", ergänzte Lana.
"Naja.", sagte Herr Mard. "Die Leute von der GGM haben vergessen, dass ich noch im Keller war...oder mich mit Absicht dort gelassen. Ich habe versucht nach den Mitmenschen zu rufen. Aber sie haben es wahrscheinlich nicht gehört. Wenn ihr mich nicht gefunden hättet...ich glaube nicht, dass ich noch lang durchgehalten hätte. Ihr habt mich gerettet."
"Wie lang waren Sie im Keller?", fragte Lana.
"Ich weiß nicht genau. Zwei oder drei Tage möglicherweise. Ich hab die Übersicht verloren, aber ich glaube es war drei Mal Nacht."
Izmir gruselte sich bei dem Gedanken drei Nächte allein in diesem dunklen Keller zu hängen.
"Ach du Scheiße!" Razdan massierte Chiefs Ohren. "Aber wir haben Sie schon bisschen vermisst in der Schule."
Izmir nickte heftig. "Ja! Herr Kröger ist..."
Frau Schlotterbeck seufzte.
"...blöd."
Herr Mard schmunzelte. "Dass ausgerechnet du das sagst, Razdan. Meine Abwesenheit war auch nicht umsonst. Ich weiß jetzt, dass die GGM im Unrecht ist. Die meisten Theorien über die Mitmenschen sind falsch. Es war nötig, das herauszufinden. Wir müssen sie wieder suchen!"
Izmirs Abenteuerlust war wieder geweckt. "Ich habe einen Mitmensch am anderen Ufer gesehen! Sie müssen hier im Wald leben!"
Herr Mard nickte. "Ich kann euch zu ihnen führen."Sie holperten auf einem Feldweg weiter durch Wald und Wiesen und Fred sang dabei laut zu seiner Musik, was bei allen in den Ohren schmerzte, bis sie auf eine marode Brücke über den Fluss zusteuerten.
"Ich würde ab hier nicht mit dem Bus weiterfahren.", sagte Herr Mard.
"Ach was, das schafft die alte Kiste drüber!", meinte Fred.
Erst als sie ihn alle anschrien, dass er anhalten sollte, bremste er und parkte den Bus am Wegrand. Sie machten sich bereit, um zu Fuß weiter zu gehen. Razdan stopfte einen Rucksack voller Snacks.
"Du klingst wie ne rostige Gießkanne!", sagte Lana zu Fred.
"Hach, ich hab lang nicht mehr gesungen. Dabei war ich früher ein großer Sänger. Ich hatte sogar ein Album!"
Lana zog die Augenbrauen hoch.
"Wirklich! Ich war berühmt. Bin mehrere Jahre durch Südamerika getourt mit meiner Musik!"
"Ja klar und ich bin Lana del Rey!"
Fred winkte ab. "Ihr jungen Leute wisst einfach nicht was wir damals hatten! Fünf Leute in der Band, heute ist die Hälfte an den Amazonas ausgewandert und wir haben keinen Kontakt mehr. Aber wir waren mal wie Brüder!"
Lana seufzte. "Oke, seid ihr fertig?"
"Vielleicht ist es besser wenn du hierbleibst.", sagte Frau Schlotterbeck zu Herrn Mard, als er sich aus dem Bus mühte.
"Nein, ich muss mit euch kommen. Ich war schon bei den Mitmenschen. Sie werden mich wiedererkennen."
Sie ließen Chief bei Fred im Bus. Razdan wuschelte ihm noch einmal durchs Fell und sah zu Fred hinauf. "Möge ein grausames Schicksal dich ereilen, solltest du ihm Leid zufügen!"
Dann zogen sie los.
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Die Ankunft der Mitmenschen
MaceraIzmir erlebt eine Zeit, in der die Gesetze der Welt sich wandeln das Alte und Neue Wissen sich vermischen.