Into the Light

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Das Holz der Brücke knarrte unter Izmirs Füßen. Er war sich ziemlich sicher, dass sie keinen Bus ausgehalten hätte. Herr Mard zeigte auf einen Trampelpfad, der in den Wald hinauf führte und sich durch eine felsige Landschaft wand. Sie bogen vom Feldweg ab und drangen tiefer vor in den Wald. Razdan kletterte auf den Felsen herum und lachte wie ein kleiner Junge, bis Frau Schlotterbeck ihn herunter rief, da ihr Weg sonst zu lange dauerte und sie zusammenbleiben mussten.
Izmir hörte Vögel tschilpen. "Schau mal ein Eichhörnchen!", sagte er zu Lana.
"Wow. Das ist kein Eichhörnchen, das ist ein Eichhorn!"
Das Eichhorn sprang auf einen Ast, er brach ab und das Eichhorn verschwand hinter der Böschung.
"Die sind irgendwie anders als bei uns."
Der Weg führte nun stetig bergauf. Ab und zu mussten sie auch ein paar Stufen hinaufsteigen, um einen Felsbrocken zu überwinden.
Izmir sah durch die Bäume den Hang hinauf, wo in einiger Entfernung scheinbar das Land zuende war und er nur noch Himmel und Wolken sehen konnte. So musste der Rand der Welt aussehen, dachte er. Eine Weile führte der Pfad so dem Himmel entgegen. Izmir hörte Razdan von vorne Videospielgeräusche nachmachen und Lana bewarf ihn mit Tannenzapfen.
Sie liefen an einem dunklen Hohlraum im Fels vorbei und Izmir schaute hinein. Leuchteten da nicht zwei Lichter? Wie zwei Augenpaare?
Er blinzelte und die Lichter waren fort. Alarmiert drehte er sich zu Herrn Mard um. "Ich glaube ich habe Augen gesehen!"
An der nächsten Böschung war die Erde feucht und Izmir rutschte aus. Das schmerzte leicht am Schienbein. Er benutzte eine Ranke als Aufstiegshilfe. Razdan pflückte Blätter von einem lilanen Strauch und aß sie.
"Oh, ich würde das nicht essen, was wenn die giftig sind?", meldete Lana Bedenken an.
"Nee nee, ich hab das mal beim Zocken gesehen!"
"Boah Razdan...du hast den ganzen Rucksack voller Snacks. Aber du entscheidest dich, die Bäume zu essen!" Sie mussten beide lachen.
Herr Mard kam langsam hinter ihnen den Hang heraufgekeucht.
"Yo, Herr Mard, alles gut? Wir müssen noch weiter!", rief Razdan.
Herr Mard kletterte die letzten Stufen hinauf und setzte sich erschöpft auf eine Wurzel.
Izmir nutzte die Gelegenheit und setzte sich auch hin. Er hörte einen Kuckuck rufen. Kuckuck, Kuckuck! Wie bei einer Kuckucksuhr, dachte er. Der Kuckuck rief vier Mal. Dann war er still. Nach etwa einer Minute rief er nochmal vier Mal. Izmir begann, sich unwohl zu fühlen. "Können wir weitergehen?"
Razdan hatte im Unterholz gewühlt und kam mit einem langen Stock zurück, den er Herrn Mard reichte. "Hier, den können Sie als Wanderstab...dings...", er starrte seine Hand an und blinzelte. "Wow krass!" Razdan sah mit verklärtem Blick von seiner Hand hoch.
"Was?", fragte Lana.
"Ich kann Zeit sehen!" Seine Pupillen waren unnormal geweitet. Fasziniert stolperte er umher. "Ich kann Farben schmecken!"
Lana erschrak. "Das kommt bestimmt von dieser Pflanze! Was machen wir denn jetzt?"
Frau Schlotterbeck kam zurück vom oberen Pfad, den sie schonmal ausgekundschaftet hatte. "Wir sind fast oben!", rief sie. "Es ist nicht mehr weit! Was ist denn hier los?"
"Frau Schlotterbeck, Razdan hat von einer Giftpflanze gegessen, wir müssen die Polizei rufen!" Lana fing an zu lachen. "...ich meine den Krankenwagen!"
"Die Pflanze war nicht illegal!", rief Razdan.
Frau Schlotterbeck reichte eine Wasserflasche herum, dann machten sie sich langsam wieder auf den Weg und sie half Herrn Mard beim Aufstieg. Izmir ging vor den beiden her.
"Seht ihr auch überall diese kleinen grünen Männchen?", fragte Razdan.
"Das sind Büsche."
"Oh. Warum haben die dann Augen?"
Izmir blinzelte. Die Büsche hatten tatsächlich Augen. Er blieb so abrupt stehen, dass Frau Schlotterbeck und Herr Mard fast in ihn hineinliefen. "Die Mitmenschen! Sie haben uns umzingelt!"

Noch während Izmir den letzten Satz sprach, teilten sich die Büsche und gebeugte Kreaturen krochen heraus. Mit Klauen versehene Hände griffen nach Izmirs Armen und runzlige Gesichter mit orange leuchtenden Augen begutachteten ihn kritisch. Ehe Izmir sich wehren konnte, hatten sie ihn in ihrer Gewalt und schleppten ihn fort. Hinter sich hörte er die anderen schreien und Razdan wie ein Mädchen kreischen, was ihm sagte, dass ihnen ein ähnliches Schicksal wiederfuhr.
Vor Schreck bekam Izmir kaum ein Wort heraus. Er spürte, wie die Kreaturen an ihm zerrten und wie seine Beine über den hügeligen Waldboden schleiften. Dabei stimmten sie einen rhythmischen Singsang an, wie ein schauerlicher Kinderchor.
"Halt!", platzte es endlich aus Izmir heraus. "Halt! Wir kommen in Frieden!"
Doch die Kreaturen hörten nicht auf sein Flehen. Wie sollten sie auch Freund und Feind unterscheiden können?
"Wir sind nicht von der GGM! Wir wollen nur mit euch reden!", bettelte er.
Auf einer Lichtung machte der Trupp halt und immer mehr Mitmenschen kamen hinzu und drängten sich um die Fremden, bis Izmir das Gefühl hatte, zwischen den fremdartigen Körpern erdrückt zu werden. "Bitte lasst uns gehen! Au!" Ein Mitmensch war auf seinen Fuß getreten und ein anderer drohte ihm die Schulter auszukugeln. Izmir kam der Verdacht, dass die Mitmenschen vielleicht gar nicht reden konnten, dass sie wirklich wie Tiere waren, deren Lebenszweck es war, instinktiv in Gruppen zu morden. Doch hatte Herr Mard nicht gesagt, dass sie einen einluden, wenn man nach ihnen suchte? Vielleicht war das ihre Jagdstrategie...
Izmir riss seinen Arm los und holte aus seiner Tasche das Medaillon. Vielleicht konnte er sie damit ablenken. "Ich habe etwas, das euch gehört!"
Das Medaillon fiel zu Boden, doch ein kleiner Mitmensch mit weißen Flaum auf dem Kopf hob es auf und fingerte mit seinen Klauen daran herum, bis es sich öffnete.
Eine Veränderung trat in das Verhalten der Mitmenschen. Sie betrachteten das Medaillon und wichen plötzlich von Izmir zurück. Ihr Griff lockerte sich und die Klauen, die Löcher in seine Kleidung gebohrt hatten, ließen von ihm ab. Der Mitmensch warf das Medaillon vor Izmir auf den Boden und die Kreaturen wichen weiter von ihm zurück, bis sie sich alle am Rand der Lichtung drängten. Izmir sah sich erstaunt um. Er entdeckte seine Freunde in der Menge, die noch immer von den Mitmenschen festgehalten wurden, nur Herrn Mard wagte keiner von ihnen anzufassen.
Ein Surren wie von einer elektromagnetischen Welle erfüllte die Luft und Izmir hielt sich die Ohren zu. Die Mitmenschen gingen einer nach dem anderen auf die Knie, sofern sie welche hatten, und verneigten sich.
"Wie...was passiert...?", fragte Izmir verwirrt.
Da teilten sich die Zweige vor ihm und ein großer Mitmensch betrat die Lichtung. Er war majestätisch, seinen Schädel zierte die bunteste Federpracht, die Izmir je gesehen hatte. Er hatte kein Gesicht, sondern trug eine weiße Maske, die mit bunten Verzierungen bemalt war. Über den dünnen Gliedmaßen hing ein gewebtes Gewand und er spielte auf einer hölzernen Flöte furchteinflößende Laute, die Izmir das Blut in den Adern gefrieren ließen. Ohne lang zu überlegen, kniete Izmir sich auf den Boden und verneigte sich, so wie die Mitmenschen um ihn herum, in der Hoffnung vielleicht von ihm verschont zu werden.
Er hörte die Schritte des Mitmenschen näherkommen und eine Stimme, wie ein Donnergrollen in der Ferne, sprach zu ihm: "Steh auf!"
Izmir gehorchte und sah in die listigen Augen des Mitmenschen. Er war vor Izmir zum Stehen gekommen, beugte sich nun hinab und hob das Medaillon auf. Die Kette klackerte leise über seine knochigen Finger. "Wer ich bin, du weißt?", sprach der Mitmensch zu ihm.
Izmir wusste es nicht, doch er sah sich genötigt zu antworten, um das Monster vor sich zu besänftigen. "Ich...ähm...du bist...Häuptling Listiger Lurch?", stotterte er.
"Du hast mich gerufen?", brummte der Mitmensch und hielt das Medaillon in die Höhe.
Izmir zeigte etwas unbeholfen auf Herrn Mard. "Das...äh...ist Herr Mard, mein Lehrer. Ich habe das in seiner Spülmaschine gefunden!"
Der Mitmensch schwieg eine Weile und begutachtete das Medaillon. Dann begutachtete er Izmir.
"Man nennt mich Adahy, Häuptling des Waldes. Wer mein Ebenbild bei sich trägt, den wird es zu mir führen."
Izmir starrte die Maske an, versuchte ein Gesicht dahinter zu erahnen. "Du bist ein Mitmensch."
"Ich bin Meister vieler Dinge. Ich bin das Auge in der Nacht. Ich bin der Sturm in der Tiefe. Ich bin das Gesicht der Dunkelheit. Ich bin Gewalt. Ich bin das Leben."
"Okay...", murmelte Izmir.
"Du bist Izmir Ramazan."
Izmir schnappte überrascht nach Luft.
"Sag mir, Izmir Ramazan, in welcher Absicht kommst du zu mir?"
"Wir...wir kommen in Frieden! Wir wollen euch bitten, die Angriffe zu unterlassen...uns zu respektieren. Dann werden wir euch auch in Frieden lassen...oh Häuptling!", fügte Izmir hinzu.
"Wir wünschten niemals Streit. Wir kamen zu euch in Zeiten des Friedens und suchten nichts Böses. Doch ihr habt euch abgewendet. Ihr habt uns wegen unserer Andersartigkeit verfolgt.", sprach Adahy.
Izmir senkte den Kopf. "Das tut mir leid."
"Unsere Vergeltung ist verübt. Wir werden uns zurückziehen in die Tiefe des Waldes und keinen Groll mehr hegen gegen die Menschenkinder. Niemals mehr wird einer von uns unter euch wandeln und ihr werdet nur noch in Liedern von uns singen."
Izmir blickte in den unveränderten Ausdruck der weißen Maske, doch er glaubte, ein Funkeln hinter den Augenlöchern zu sehen. "Bitte geht nicht! Wir können eine friedliche Lösung finden und den Krieg beenden!"
"Der Krieg wird auf diese oder andere Weise vollstreckt werden. Einen Kampf um Leben und Tod, zwischen Gut und Böse, werden die Menschenkinder allein ausfechten. So wird es sein bis in alle Ewigkeit. Mein Volk verabschiedet sich, doch ihr werdet nicht länger unter den Fanatikern leiden. Unsere Vergeltung hat ihren fanatischen Geist zerschlagen. Wir bitten um deine Vergebung."
"Oh...ja...natürlich.", sagte Izmir. Der Häuptling sah ihn an. Izmir sah den Häuptling an. "Entschuldigung...es ist nur so, dass es so lange gedauert hat, bis wir echten Mitmenschen begegnet sind. Und jetzt ist es endlich so weit!"
Der Häuptling hielt das Medaillon in die Höhe. "Dieses Artefakt soll dir als Andenken dienen an unseren friedlichen Auseinandergang. Möge es dir ein Versprechen sein bis in alle Zeit, Menschenfreund, dass unsere Völker Frieden halten werden. Eure Mitmenschen werden verschwinden und wir werden anderswo Heimat finden, wo wir bis ans Ende unserer Zeit verweilen können."
Izmir neigte den Kopf und ließ den Häuptling das Medaillon um seinen Hals legen. Als seine Hände Izmir berührten, durchfuhr ihn ein Strom an Energie, der in seinen Ohren rauschte. Er hörte das Herz des Häuptlings schlagen, hörte Gelächter und Musik und er sah viele Abende am Feuer, sah traditionelle Tänze dieser andersartigen Leute, er sah wie ihre Kinder geboren wurden und ihre Alten starben. Er sah den Wechsel von Jahreszeiten und den Wandel der Erdzeitalter und er hörte die Urväter des Häuptlings ihre Lieder singen. Die knochigen Hände des Häuptlings ließen ihn los und seine weiße Maske mit den Malereien und die bunte Federpracht brannten sich auf Ewig in Izmirs Gedächtnis ein. Er taumelte zurück und stolperte im hohen Gras.

Die Ankunft der MitmenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt