Von Gewalt, Chaos und Tomaten 🍅

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Wie sich herausstellte, hatte die GGM gar keine richtige Notunterkunft und die Heimatlosen wurden vorläufig in der Büroetage untergebracht. Karl hatte einen Lagerraum freiräumen und Kissen und Decken hineinbringen lassen, um den Flüchtlingen großzügig Obdach zu gewähren. Am Abend gab es nochmal einen kurzen Bombenalarm, doch nichts geschah und sie durften nach einer halben Stunde schon wieder in den Lagerraum zurückkehren.
Die anderen Übernachtungsgäste waren hauptsächlich Jugendliche und Freunde von Kazimir, die bis zwei Uhr Nachts herumgrölten und am offenen Fenster Zigaretten rauchten. Izmir wusste nicht, ob wirklich alle von ihnen ihr Zuhause verloren hatten. Manche waren wohl einfach aus Spaß hergekommen. Karl war gegangen und hatte sie ihrem Schicksal überlassen, sodass niemand da war, der sie ermahnen konnte.
Izmir vermisste sein Zimmer und sein Bett neben dem Fenster, von dem er vor dem Einschlafen in aller Ruhe den Innenhof beobachten konnte. Erst um halb drei waren die anderen endlich ruhig und Izmir lag eingepfercht zwischen seinem Bruder und dem Mülleimer an der Wand, doch er traute sich nicht mehr Platz einzufordern, da Kazimir ihm bei der kleinsten Bewegung einen genervten Tritt versetzte. Ein paar der Jungs schnarchten unglaublich laut und Izmir versuchte mit Kissen auf den Ohren die Geräusche zu dämpfen. Kurz vor Morgengrauen musste er doch noch eingeschlafen sein, denn er schreckte hoch, als einer der Jungs über seinen Arm stolperte.
Die Morgensonne schien keck zum Fenster herein in dem Versuch zu vertuschen, was gestern alles passiert war. Es war als würde sie sagen: "Hach, die Stadt ist zerstört, das macht mir doch nichts aus! Dumdidumdidum!"
"Ey du liegst voll im Weg!", pöbelte der Gruppenälteste ihn an, der sich unglaublich cool dafür fühlte, dass ihm in seinem Alter schon Barthaare wuchsen. "Mach dich mal nützlich und hilf uns beim Aufräumen, anstatt nur hier rumzuliegen!"
Als Izmir aufstehen wollte, bewarf er ihn mit Kissen und die anderen lachten hämisch. Er wurde noch ein wenig herumgeschubst, dann erreichte er endlich die Tür und stolperte hinaus in den Flur. Verschlafen schlurfte er in die Büroküche. Karl hatte gesagt, sie durften sich an allem was es hier zu Essen gab bedienen. In der Küche stand schon ein Mitarbeiter vor der Kaffeemaschine und wartete gierig auf sein Heißgetränk. Er nahm es heraus, rührte etwas Zucker hinein und prostete Izmir im Hinausgehen mit der Tasse zu. Dabei sang er leise: "Zucker im Kaffee und Zitrone oder Sahne in den Tee..."
Izmir öffnete den Kühlschrank, wo er zu seiner Enttäuschung nicht allzu viel vorfand. Er nahm sich eine Scheibe Brot mit Wurst und öffnete eine Limonade. Wurstbrot essend und Limonade schlürfend latschte er zurück zum Lagerraum. Dort hatten die Jungs seinen Zeichenblock unter dem Kopfkissen an seinem Schlafplatz gefunden und zeigten lachend die Bilder herum.
"Hey!", rief Izmir und wollte ihnen die Bilder wegnehmen, doch einer der Jungs schubste ihn zu Boden, wobei Izmir fast seine Limonade verschüttete.
"Hast du diese hübschen Bilder gemalt?", fragte der Junge mit Bart verächtlich.
"Das ist gezeichnet!", verteidigte Izmir sich.
"Warum zeichnest du, bist du schwul oder was? Schaut mal den Regenbogen an!"
Die Jungs lachten.
Nora lag noch immer an der Wand in ihrem Schlafsack, den sie wie einen Schmetterlingsconcon bis über die Ohren zugezogen hatte. "Ihr seid blöd!", rief sie. Doch obwohl sie die Wahrheit sprach, zeigte ihre Aussage wenig Wirkung.
Der Junge hielt die Zeichnung von der Blume hoch, die Izmir Lana schenken wollte.
"Gib das her!", rief Izmir und wollte es aus seiner Hand schnappen, doch ein fieser Junge mit Brandnarben auf den Armen stieß ihn weg.
Der Junge mit Bart nahm das Bild und riss es langsam von oben nach unten durch.
"Nein!", schrie Izmir.
"Ups! Da ist mir wohl die Hand ausgerutscht, sorry!"
"Vielleicht kannst du mal was Gescheites zeichnen und nicht nur so Schwulenmotive!"
Izmir versuchte an die Reste der Zeichnung zu kommen, doch er rutschte auf den Schlafsäcken aus und die Jungs schubsten ihn lachend herum.
"Hört auf!", hörte er Nora rufen.
Kazimir betrat nur in Shorts gekleidet das Zimmer, um mit seinen Muskeln anzugeben und betrachtete das Chaos, das seine Freunde veranstalteten. Er war ganz ruhig, nur sein Auge zuckte leicht, wie immer, wenn ihn etwas furchtbar aufregte. Izmir kannte diesen Blick nur zu gut. Es war die kurze Pause, bevor sein Bruder handgreiflich wurde oder früher bevor er Izmir sein Spielzeug weggenommen hatte oder bevor er entrüstet nach seiner Mutter schrie.
Kazimir griff nach einem Feuerzeug, das noch vom Rauchen gestern dalag und stiefelte durch das verwurschtelte Bettzeug auf sie zu.
"Uuuuuh!", machten einige Jungs und wichen aus.
Kazimir aktivierte das Feuerzeug und packte den Jungen an seinem Bart. "Aaaaah!" Der Junge wollte fliehen, doch Kazimir hielt die Flamme so dicht vor sein Gesicht, dass jede Bewegung das Flambieren seiner Haarpracht bedeuten konnte.
"Wenn du meine Geschwister noch einmal anfässt, dann werde ich deine Bartstoppeln abbrennen, dass dir nie wieder auch nur ein einziges Barthaar wachsen wird!", zischte Kazimir.
Der Junge wich panisch vor der Flamme zurück. "Oke, oke, ist ja gut! Entspann dich mal, wir haben doch nur Spaß gemacht!"
Kazimir ließ den Jungen los und verfolgte ihn mit dem Todesblick, bis er und die anderen Jungs sich aus dem Raum getrollt hatten.
Izmir rappelte sich auf und hielt traurig die zerrissenen Bildhälften aneinander. "Danke, Kazimir."
"Ich bin immer noch Kaz! Und hör auf so schwul zu zeichnen, wenn du nicht verprügelt werden willst!"
"Was soll das denn? Erst hilfst du mir und dann beleidigst du mich!"
Kazimir strich sich lässig durch die Haare. "Ich bin dein Bruder. Niemand darf dich schlagen und beleidigen außer mir!"

Die Ankunft der MitmenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt