Das Ende der Drahtloszeit

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Izmir und Razdan waren von der Aktivlehrerin Frau Schlotterbeck beauftragt worden, die Bälle aus dem Keller zu holen. Sie konnten heute nicht auf den Sportplatz, den sie sonst für den Aktivunterricht nutzten, weil dort der Rasen gesprengt wurde. So mussten sie sich heute mit dem relativ kleinen Raum der Caféteria begnügen. Razdan hatte schon Sportkleidung an und sprang vor Izmir die Stufen hinunter. Izmir trug noch seine normale Kleidung und schleppte seinen Rucksack und Sportbeutel mit, da er noch keine Zeit zum Umziehen gehabt hatte. Nach der Pause hatte er noch den Säuberungsdienst verrichtet, bei dem er den Innenhof und die Eingangshalle vom Müll seiner Mitschüler befreien musste. Izmir hasste diesen Dienst und freute sich auf die Oberstufe, weil er diesen Dienst dann nicht mehr machen musste.
Sie betraten den Keller des ehemaligen Altenheims und gingen die Flure entlang. Die ehemalige Küche war jetzt vollgestellt mit allerlei Kartons, Kopierpapier, Unterrichtsmaterialien und Naschereien als Belohnung für die Schüler, allerdings sahen die Schüler hier niemals etwas von diesen Süßigkeiten. "Boah geil!", rief Razdan und griff in den Karton.
"Lass das! Wir dürfen das nicht einfach nehmen!", flüsterte Izmir und sah sich nervös um.
"Dein Ernst? Das vergammelt hier unten doch sowieso nur!" Razdan reichte Izmir eine Gummibärchentüte und bediente sich an den Packungen mit Schokobonbons und Konfekt. "Hier, tu das in deinen Rucksack!"
Izmir fühlte sich schlecht, doch er steckte die Sachen schnell ein.
"Lass uns das später teilen!"
Sie gingen an ein paar Regalen vorbei und fanden das Netz mit den Bällen. Razdan schulterte das Netz wie der Weihnachtsmann seinen Sack mit Geschenken. "Sollen wir die anderen Bälle da auch mitbringen?", fragte er.
"Nee, ich glaub das sind Volleybälle.", entgegnete Izmir und kreischte auf, als plötzlich eine Hand aus dem Haufen hervorkam und nach Razdans Arm griff. Razdan wich erschrocken zurück und schlug um sich.
"Die Mitmenschen! Jetzt haben sie uns!", schrie Izmir in Panik.
"Hhrrchchhh!", machte eine kratzige Stimme aus den Tiefen des Ballhaufens. Ein weißhaariger Kopf erschien und die Hand richtete einen zitternden Finger auf sie. "Bin keeeiiin Mitmensch!", röchelte die Gestalt.
Izmir sah zu, wie der alte Mann sich aus den Bällen wühlte. Mit seiner anderen Hand umklammerte er den Griff eines Rollators, der auch unter den Bällen versteckt gewesen war. "Iiiiihr klaut mir mein Essen!"
"Alter!", schrie Razdan empört.
"Das finde iiich niiicht nett von diiir..."
"W...wer sind Sie?", stotterte Izmir.
"Man nennt mich Jovi. Bon Jovi."
"Ach neeee!", beschwerte sich Razdan. "Was machen Sie hier im Keller, das ist voll creepy mann!"
Der alte Mann schien verletzt. "Was mache ich hier?! Das hier ist mein Zuhause. Das heiißt...das war es bevor man es mir weggenommen hat! Iiihr Kinder...ihr habt mir mein Zuhause gestohlen!"
"Er ist noch aus dem Altenheim hier!", stellte Izmir entsetzt fest. Razdan nickte ungläubig.
"Ein schönes Altenheim war es! Ein ruhiges Leben in Würde. Drei warme Mahlzeiten am Tag, Spielenachmittage, Tanzmusik. Und dann...puuuffff!" Er machte eine Explosionspantomime mit den Händen.
"Der Blitz!", erinnerte sich Izmir.
Der alte Mann nickte und von seinen Grimassen erschien sein Gesicht noch faltiger. "So viele tot. So viele! Meine Freunde, von einen Tag auf den anderen..."
"Puff.", beendete Izmir vorausschauend den Satz.
"Jaaa!"
Razdan betrachtete Izmir grinsend.
"Warum sind Sie noch hier?", fragte Izmir.
"Sssiee...sie wollten mich wegbringen. Ich sei nicht mehr willkommen. Ich sollte woanders leben!"
"Wo denn?"
Der Alte gestikulierte mit seinen zittrigen Armen in der Luft. "Ich weiß es nicht. Aber weg, weit weg! Und nie wieder zurückkehren sollte ich! Das ist nicht mehr mein Land, haben Sie gesagt. Und dann kam die Schule hierher!"
"Sie haben sich hier versteckt?", fragte Izmir.
Er nickte.
Izmir wechselte einen Blick mit Razdan. "Von was haben Sie gelebt?"
"MMMMMH...", machte der Alte und Izmir und Razdan wichen einen Schritt zurück. "Am Anfang war noch Mehl da. Jetzt von den süßen Sachen in dem Karton, aus dem ihr Jungs gestohlen habt!"
"Boah, sagen Sie das doch gleich, meinetwegen können Sie das Zeug ja wiederhaben!", meinte Razdan.
"Nein.", sagte Izmir. "Meine Mutter sagt, nur Süßigkeiten zu essen ist kein Standard für eine ausgeglichene Ernährung!"
Razdan lachte. "Sorry mann, mein Freund hier hat einen leichten Schaden, aber er kann nichts dafür."
Izmir ignorierte Razdan und wühlte sein Pausenbrot hervor. "Hier! Nehmen Sie das!"
Der Alte nahm das Käsebrot entgegen. "Ooooh, ihr seid gute Jungs. Gelbe Wurst hatte ich ewig nicht mehr."
Razdan schaute verstört drein, während Izmir sich verabschiedete. Sie nahmen die Bälle und machten sich auf den Weg nach oben.
"Wir hätten ihm mal lieber die Süßigkeiten überlassen sollen. Von deinem Käsebrot kriegt der garantiert ne Lebensmittelvergiftung!"
"Gar nicht wahr!", verteidigte Izmir seine Pausenbrotkreation. "Das hält sich lange, ich habe mal ein Käsebrot noch nach ner Woche gegessen!"
Razdan schüttelte sich vor Ekel. "Bah...egal."

Sie spielten ein Ballspiel, bei dem Gruppen der Kinder zwei Reihen bildeten, die sich gegenüber standen. Sie mussten sich den Ball so zuwerfen, dass er die Reihen im Zickzack passierte und der letzte, der den Ball hatte, musste zurückrennen und sich an den Anfang der Reihe stellen. Sie mussten versuchen, es so schnell und rhythmisch wie möglich zu schaffen. Als mehr Bälle dazu kamen, brach Chaos los. Als Izmir gerade einen Ball ins Gesicht bekam und rückwärts über Simon flog, ertönte ein Signal aus dem Lautsprecher über der Tür. Es knisterte, dann ertönte eine dünne Stimme: "Hallo liebe Kinder, hier spricht Frau Krille aus dem Sekretariat."
Die Aktivlehrerin Frau Schlotterbeck unterbrach das Spiel und befahl ihnen, ruhig zu sein.
"Wie ihr sicher schon gehört habt, hat unsere Regierung heute eine neue Regelung in Kraft gesetzt, die den Besitz jeglicher portabler Informationsmedien und Nachrichtendienste untersagt. Das betrifft also hauptsächlich eure Smartphones. Wir bitten euch, nach dem Unterricht ins Sekretariat zu kommen und euren Registrierungsnachweis für die Abgabe zu holen. Die Geräte werden bis auf Weiteres konfisziert und wahrscheinlich...aber das ist meine Vermutung...eingeschmolzen. Ich danke euch für euer Verständnis!"
In der Klasse brach sofort ein Tumult los. Razdan schrie am lautesten. "Waaaaas aber das war voll teuer, das können die doch echt nicht bringen!"
"Was soll ich denn den ganzen Tag machen ohne Handy und wie soll ich meinen Freunden schreiben?!", kreischte Melanie.
Izmir war genauso verwirrt wie die anderen. Warum sollten sie ihre Handys abgeben? Er rappelte sich vom Boden auf, wo Simon saß und besorgt sein Handy umklammerte. "Das finde ich echt scheiße von denen.", meinte er ruhig.
"Ihr habt gehört, was sie gesagt hat! Nach dem Unterricht geht ihr alle beim Sekretariat vorbei!", rief Frau Schlotterbeck.
"Aber wie können Sie sowas unterstützen Frau Schlotterbeck, das ist doch voll unnötig!", beschwerte sich Lana.
"Ich verstehe es genauso wenig wie ihr, aber als Schule müssen wir uns an die Anweisungen halten.", sagte Frau Schlotterbeck. "So tragisch ist es doch auch gar nicht und ihr bekommt sie bestimmt bald zurück. Lasst uns jetzt weiterspielen, wir haben noch 10 Minuten und es lief gerade so gut!"

"Einmal bitte hier in der Liste unterschreiben!", Frau Krilles Finger wanderte über das Blatt voller Namen vor Izmir. Er zögerte kurz und unterschrieb dann widerwillig. Sie reichte ihm seine Bescheinigung. "Das Handy kommt hier in den Korb!"
Izmir sah in den Korb, in dem schon ein Haufen Geräte übereinanderlagen. "Ich will nicht.", sagte er zu Frau Krille, die schon dem nächsten die Liste hinschob.
"Na Junge, mach's dir nicht so schwer. Es wird Anderes geben. In der Atmosphäre geht doch nichts verloren!"
Izmir sah betrübt zu Boden und trennte sich schwerenherzens von seinem Smartphone. Er legte es in den Korb und verließ dann schnell den Raum. In der Eingangshalle irrten orientierungslose und zutiefst verwirrte Teenager umher. Was sollten sie jetzt tun ohne ihr Handy? Es hatte ihnen doch alles möglich gemacht. Was sollten sie nur tun?

Die Ankunft der MitmenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt