Das Aufbäumen der GGM

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Die Luft draußen war kühl und hatte eine Schärfe, die noch leicht in der Nase stach, auch wenn die Regierung verkündet hatte, dass es wieder sicher war, nach draußen zu gehen. In der Nacht war der restliche Nebel vom Winde verweht worden und Izmir hatte in seinen Träumen ständig eine Frauenstimme weinen hören. Von all dem Gejammer war er völlig zermürbt aufgewacht. In den frühen Morgenstunden hatte Regen eingesetzt und Ätzspuren an vielen Häusern hinterlassen, als das Gift an den Mauern heruntergespült wurde. Es war seltsam jetzt draußen herumzulaufen und Izmir hatte ein mulmiges Gefühl dabei.
Am Bahnübergang hatte er seine Schwester bei der Hand nehmen wollen, doch Nora hatte ihre Hand weggezogen. "Ich bin doch nicht mehr fünf Jahre alt!", hatte sie gerufen.
Als der Zug kam, hatte Izmir sie schnell gepackt und von den Schienen gezogen. Jetzt liefen sie Hand in Hand zum Dönerstand. Izmirs Vater und Kazimir liefen vor ihnen her. Zorlob nahm die Bestellungen seiner Kinder auf und bestellte am Dönerstand einen Döner, einen Döner, einen Döner und für sich selbst noch einen Döner. Vor sich hin mampfend gingen sie weiter Richtung Stadthalle. Izmirs Vater hatte sich dort in einer Liste eingetragen, als er für die Sauerstoffkanister dort war und wollte wieder dorthin gehen, um seine Unterstützung zu zeigen.
Vor der Stadthalle herrschte Chaos. Verschiedene Gruppen waren gekommen, um auf dem Platz vor dem Gebäude zu demonstrieren. Zwei Polizisten sicherten den Eingang zur Halle ab und kamen sich wichtig vor. "Sind sie Bürger dieser Stadt?", fragte Polizist 1, als sie hineingehen wollten.
"So ist es!", rief Zorlob.
"Wie lang wohnen Sie schon hier?"
"Schon immer! Ich bin hier geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen! In der Bar am alten Pferdestall war ich zum ersten Mal richtig betrunken!"
Izmir kicherte, doch sein Bruder boxte ihn in die Rippen. "Au!"
"Aber wo kommen Sie in echt her, ich meine woher sind ihre Eltern?"
"Sie sind hier geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen!"
Der Polizist schüttelte den Kopf. "Schön und gut, aber woher sind dann Ihre Großeltern? Sie müssen doch irgendwo aus dem Ausland hergekommen sein!"
"Niemals!", rief Zorlob stolz. "Wir sind treue Bürger!"
Nora drückte Polizist 2 einen Bonbon aus ihrer Jackentasche in die Hand.
"Oh!", machte der Polizist. Er stieß seinen Kollegen an und zeigte ihm den Bonbon. Die beiden wechselten einen Blick. Polizist 1 streckte auch die Hand aus. Nora gab ihm auch einen Bonbon. Dann winkten die Polizisten sie durch.
"Gut gemacht, Kind!", sagte Zorlob. "Merkt ihr, dass sie uns nicht glauben? Sie haben keinen Respekt vor unserer Familie!"
In der Halle waren ebenfalls Gruppen, die etwas ruhiger demonstrierten. Zorlob steuerte zielstrebig auf eine Gruppe zu, die auf einer Tischreihe an der Wand Plakate bastelte. Dort schüttelte er einem Mann mit dünnem, grauen Haar die Hand. "Zorlob!", rief der Mann. "Schön, dich wiederzusehen!"
Zorlob winkte Izmir und seine Geschwister näher heran. "Kinder, das ist Karl-Gustav. Er ist der Gründer der GGM!"
"Nennt mich einfach Karl!" Karl schüttelte ihnen der Reihe nach die Hand. "Was für ein fester Händedruck!", stellte er beeindruckt fest, als er Kazimir die Hand schüttelte.
"Mein Sohn boxt!", erzählte Zorlob.
Kazimir nickte.
"Das ist gut. Wir können tatkräftige Unterstützung hier gebrauchen! Ihr drei könnt uns mit den Plakaten helfen, während euer Vater an unserem Treffen teilnimmt!"
"Was ist die GGM?", fragte Izmir.
Karl grinste. "Neugierig sind deine Kinder auch, wie ich sehe. Wir sind die Gruppe gegen die Gewalt der Mitmenschen. Wir kämpfen für unsere Rechte. Seit Jahren schon werden wir von den Mitmenschen terrorisiert und unterdrückt. Und nun wird unsere Arbeit umso wichtiger, nach dem Giftgasanschlag."
Izmir überlegte. "Aber das waren nicht die Mitmenschen! Eine ausländische Kommune hat das Giftgas zu uns gebracht. Sie wurden von ihrer Regierung dazu beauftragt, uns damit zu schwächen!"
Karls Miene wurde ernst. "Junge, wenn du das glaubst, liegst du ganz falsch. Seit die Mitmenschen unter uns sind, passieren ständig schlimme Dinge. Die Regierung versucht das zu vertuschen, um uns zu suggerieren, dass sie alles unter Kontrolle haben. Aber wenn wir länger warten, werden die Mitmenschen uns alle ausrotten!"
"Ich hab noch nie einen Mitmenschen gesehen.", entgegnete Izmir.
"Dann ist das dein Glück. Wir anderen leiden sehr darunter und du solltest uns helfen, wenn dir dein Leben lieb ist!"
Karl wandte sich ab und Zorlob warf Izmir noch einen ernsten Blick zu. "Macht euch ein bisschen nützlich, Kinder!", forderte er sie auf und folgte Karl.

Izmir bereitete das Malen der Plakate viel Freude und er probierte sich begeistert mit den verschiedenen Farben aus, als er die Buchstaben ausmalte, die andere vorgezeichnet hatten. Nora malte mit Plakate, doch Kazimir hatte nach zehn Minuten das Interesse verloren und half den Erwachsenen beim Tische tragen.
Eine Frau kam herbei und schaute Izmir über die Schulter. "Junge, du weißt schon, dass wir demonstrieren und keine kunterbunte Kinderveranstaltung organisieren?"
Izmir betrachtete sein Werk und die schönen Farbverläufe nachdenklich. "Stimmt..."
"Naja, jetzt ist es sowieso schon passiert."
Später saß Izmir neben einem älteren Mann mit Bart, der aus einer Tupperdose Müsli löffelte. "Die Mitmenschen haben mir alles genommen!", erzählte er. "Erst mein Haus, dann meine Familie. Sie kamen in der Nacht und haben alles gestohlen. Haben einfach mitgenommen, was ihnen praktisch vorkam. Später haben sie meine Frau entführt und sie hat die Kinder mitgenommen."
"Wie sehen die Mitmenschen aus?", fragte Izmir. "Ich habe noch nie einen gesehen."
Der Mann rührte mit dem Löffel in den Haferflocken herum. "Tagsüber normal. Aber nachts...da können sie ganz verschiedene Gestalten annehmen. Manche sehen aus wie Tiere. Manche bleiben wie Menschen, aber haben dann leuchtende Augen oder verformte Gliedmaßen. Manche werden zu Gestalten, die ich nicht kenne. Wie Gespenster oder Engel oder Monster."
"Töten sie Menschen? Oder stehlen sie nur?"
"Die meisten stehlen nur. Aber die Mitmenschen, die zu mir kamen haben meine Frau mitgenommen. Ich habe sie nie wieder gesehen. Ich weiß nicht, was mit ihr geschah oder wo meine Kinder sind."
"Wie kommt es, dass ich noch nie einen gesehen habe?"
"Hier in der Stadt gibt es kaum welche.", sagte der Mann. "Du kommst wahrscheinlich nicht viel raus. Hier ist es noch sehr sicher."
"Aber früher haben wir auch draußen gelebt, außerhalb der Stadtmauern. Da war ich aber noch kleiner.", erinnerte sich Izmir. "Später sind wir in die Stadt gezogen, weil es zu teuer wurde und auch wegen der Mitmenschen."
"So...in der frühen Zeit gab es noch nicht so viele und oft wurde einem nicht geglaubt, wenn man von ihnen erzählt hat. Aber jetzt vermehren sie sich und sie bringen nur Unheil über uns. Der Blitz, die Erdbeben. Und jetzt das Giftgas. Und die Regierung unternimmt nichts, bis auf den Bau von Stadtmauern. Das hilft bei denen aber nichts, das kann ich dir sagen. Bald liegt es an uns, ob wir überleben oder nicht."
Izmir nickte. "Ich würde gerne helfen!"
"Gut so." Der Mann setzte die Müslischüssel an seine Lippen und schlürfte den Rest. "Ich bin müde. Ich habe lange auf der Straße gelebt. Doch diese Gruppe kümmert sich endlich um mich. Sie sind gute Leute und du scheinst ein schlauer Junge zu sein."
Izmir grinste stolz. Ihn hatte noch nie jemand schlau genannt. Sein Blick schweifte durch die Halle und er entdeckte plötzlich Lana in der Nähe des Eingangs. "Ich muss gehen! Auf Wiedersehen!", verabschiedete er sich höflich und lief zu ihr rüber.
Lana entdeckte ihn und winkte. "Izmir! Was machst du hier?"
"Wir unterstützen die GGM! Und du?"
"Meine Mutter hat unseren Keller ausgemistet und wir spenden einen Teil an das Krankenhaus.", sagte sie. Viele Menschen waren mit Vergiftungserscheinungen und Lungenproblemen eingeliefert worden. "Hey, hast du Lust mit zu mir zu kommen? Meine Mutter hat heute Spätdienst und ich wäre ganz alleine zu Hause."
"Klar! Ich frage schnell meinen Vater!" Izmir rannte los und suchte. Das war gar nicht so einfach, denn hier waren viele Menschen und Izmir wusste nicht mehr, wo sein Vater genau hingegangen war. Er fand schließlich Kazimir bei ein paar anderen Jungs.
"Hey Kazimir, weißt du Papa ist?"
Kazimir strich sich gelassen das Haar aus dem Gesicht. "Nenn mich Kaz!", sagte er cool.
"Äh...", machte Izmir irritiert. "Wie auch immer, kannst du ihm sagen, dass ich Lana getroffen habe und mit ihr nach Hause gehe? Ich komm auch rechtzeitig um sechs Uhr wieder!"
"Mach doch.", meinte Kazimir desinteressiert und wandte sich wieder den anderen Jungs zu.
Izmir zuckte mit den Schultern und rannte zurück zu Lana.

Die Ankunft der MitmenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt