5. Kapitel - Erin

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„Sie sind tot..." Keine Ahnung, wieso ich die Worte laut aussprach. Sie waren einfach so über meine Lippen gekommen. Aber in dem Moment, in dem ich sie ausgesprochen hatte, fühlte ich mich irgendwie erleichtert. Als würde nicht länger eine dicke Klaue mein Herz umklammert halten.

„Ich... ich weiß", gab Henry leise zurück und ich nickte. Natürlich wusste er es. Sicher hatte mein Onkel ihm und seinen Dad darüber in Kenntnis gesetzt.

„Deshalb tut mir es wirklich leid, was meine Schwester da gerade gesagt hat. Wenn sie gewusst hätte... Ich weiß sie wirkt gerade nicht so, aber sie hat genügend Anstand solche Dinge nicht gegen einen zu verwenden. Ich will sie auf keinen Fall verteidigen, ehrlich. Sie... sie ist zu weit gegangen", sprach er weiter und ich sah ihn nachdenklich an.

„Tut mir leid. Ich sage, ich will sie nicht verteidigen, aber tue es doch irgendwie", murmelte Henry und fuhr sich durchs Haar. Ich zuckte mit den Schultern.

„Schon okay... Sie ist deine Schwester und ich verstehe das", beruhigte ich ihn und Henry seufzte tief.

„Sie weiß es also nicht, sondern nur du und dein Vater nehme ich an", fügte ich nachdenklich hinzu und war überrascht, dass er zur Antwort den Kopf schüttelte.

„Nur ich weiß es. Ich... ich habe zufällig das Gespräch zwischen dir und Dr. Day mitbekommen. Ich war im Wald und wollte eigentlich zum Portal. Tut mir leid, ich hätte nicht lauschen dürfen", sagte er und biss sich auf die Unterlippe.

„Schon okay... denke ich..." Ich fand es nett von ihm, dass er mir die Wahrheit sagte. Er hätte einfach lügen und behaupten können, dass mein Onkel mit ihm darüber gesprochen hatte.

„Nicht okay... Das Gespräch war privat und... tut mir ehrlich leid!" Henry sah mich an und ich nickte. Dann winkelte ich meine Beine an und schlang meine Arme um die Knie. Diese Position hatte mir schon so oft geholfen, wenn ich traurig war.

Nach dem Tod meiner Eltern hatte ich mehrmals am Tag so in meinem Bett gesessen und die Augen geschlossen.

„Warum mag Cathie mich nicht? Ich meine, ich weiß von Heather, dass sie Cory mag. Aber schon bevor ich wirklich mit Cory was zu tun hatte, hat sie mich immer so... wütend angesehen", sagte ich leise.

Henry sagte eine Weile nichts und ich glaubte fast, dass er gar nicht antworten würde. Doch er überraschte mich.

„Sie ist eifersüchtig. Schon seit sie vier Jahre alt ist, wollte sie unbedingt eine Hüterin sein. Wenn mein Dad mit mir die Geschichtsbücher über Lavandia durchgegangen ist und mir alles über das Reich beigebracht hat, war sie immer dabei. Sie hat sich so gewünscht an ihrem 15. Geburtstag durch das Portal treten zu können, auch wenn sie eigentlich wusste, dass es nicht funktionieren würde, weil ich zu dem Zeitpunkt schon über ein Jahr als Hüter tätig war. Aber unser Vater hat sie weiter darin bestärkt. Ich habe nie verstanden wieso, bis ich von deiner Mutter erfahren habe", erzählte er und überrascht sah ich ihn an.

„Was hat meine Mutter damit zu tun?", fragte ich und schluckte.

„Sie war die erste, weibliche Hüterin und na ja... sie war die zweite Hüterin deiner Familie derselben Generation. Das gab es noch nie und ich bin wirklich überrascht, dass mein Vater mir nie davon erzählt hat", erklärte Henry und ich verstand.

„Cathie ist also sauer auf mich, weil ich ihren Traum leben kann", schlussfolgerte ich und Henry nickte.

„Nicht nur deshalb ist sie gerade so mies drauf. Aber ja, hauptsächlich deshalb. Und das ist bescheuert, weil sie nicht versteht wie anstrengend und stressig dieses Leben sein kann...", fügte er hinzu und in seiner Stimme schwang eine Spur Bitterkeit mit. Ich sah ihn an.

Avaglade - Reise durch Lavandia (Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt