17. Kapitel - Erin

46 9 5
                                    

Die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen, als Henry und ich vor dem Palast standen und die letzten Vorbereitungen trafen.

Müde stopfte ich meine restlichen Sachen in die Satteltasche und strich Pocahontas über den Hals. Sie schnaubte leise und drehte den Kopf in meine Richtung.

„Guten Morgen, seid ihr bereit?"

Yilva kam die Treppe zum Palast herunter und lächelte. Sie sah ausgeschlafen aus und ich beneidete sie ein wenig darum. Ich sah wahrscheinlich nicht einmal annährend so gut aus.

„Ich denke schon", antwortete Henry und verkniff sich ein Gähnen. Zumindest wusste ich jetzt, dass ich nicht die Einzige war, die müde war.

„Ich bin euch wirklich dankbar. Was ihr für Lavandia tut, ist so viel größer, als alles was eure Vorfahren tun mussten. Ihr haltet unser aller Schicksal in den Händen", sagte sie und sah von mir zu Henry und wieder zurück.

„Da kann ich mich nur anschließen..."

Ich drehte mich um und lächelte, als ich meinen Onkel sah, der von Mulan abstieg und zu uns kam.

„William, du hast es geschafft", sagte Yilva erfreut und mein Onkel nickte.

„Natürlich... Ich kann die beiden doch nicht losreiten lassen, ohne mich zu verabschieden, und ihnen Glück zu wünschen", sagte er und sah mich an.

„Henry, würdest du kurz noch einmal mit reinkommen? Ich wollte dir die Karte noch geben", sagte Yilva und Henry nickte leicht.

Die beiden ließen uns allein und ich mein Onkel sah mich seufzend an.

„Pass bitte auf dich auf, okay?", sagte er und ich konnte deutlich die Sorge in seinem Blick erkennen.

„Das werde ich... und ich bin ja nicht allein unterwegs. Henry wird immer an meiner Seite sein", sagte ich und hoffte, ihm so zumindest einen Teil seiner Sorgen nehmen zu können.

„Ich weiß und trotzdem werde ich mir Sorgen machen. Aber ich bin mir sicher, dass ihr zwei heil zurückkommen werdet und uns einige Antworten liefern könnt", sagte er und ich lächelte.

„Ich bin noch immer nervös und mache mir Sorgen... ich bin noch lange nicht bereit für diese Aufgabe, aber... ich weiß, dass ich das irgendwie hinbekommen werde, weil ich weiß, dass du an mich glaubst", sagte ich leise und sah meinen Onkel an.

„Natürlich glaube ich an dich. Du bist unglaublich talentiert und du hast die Gabe, dir in Sekunden Dinge einzuprägen. Alles was du können und wissen musst, kannst- und weißt du", antwortete William und ich schluckte.

„Hier... ich habe mir gedacht, dass du das brauchen könntest..."

Er zog ein Buch aus seiner Satteltasche und reichte es mir. Ich sah ihn an und dann das Buch.

„Ein Skizzenbuch... ich werde doch überhaupt keine Zeit haben..."

„Schlag es auf", unterbrach er mich lächelnd und stirnrunzelnd kam ich seiner Aufforderung nach. Was ich sah, ließ mir sofort Tränen in die Augen schießen.

Auf der ersten Seite war mit feinen Bleistiftlinien ein Bild von Mum als Teenager gezeichnet. Ich kannte den Zeichenstil und ich wusste sofort, dass sie es selbst gezeichnet hatte.

Ihr Kinn hatte sie auf der Handfläche abgestützt und sie lächelte verträumt vor sich hin, während sie einen Stift in der Hand hielt.

„Ruby's Welt", stand in ihrer geschwungenen Handschrift unter dem Bild und ich schluckte, als ich die Seite umblätterte.

Auf der nächsten Seite hatte sie William gezeichnet. Er war deutlich jünger und ich schätzte, dass er um die 16 oder 17 sein musste. Auf der Seite daneben war das Bild von einem Mann und einer Frau im mittleren Alter zu sehen.

Obwohl ich noch nie ein Bild von meinen Großeltern gesehen hatte, wusste ich sofort, dass dies mein Grandpa und meine Grandma sein mussten.

Ich blätterte weiter und auf den nächsten Seiten fand ich die Zeichnungen von den ganzen, magischen Wesen. Vom Elfenpalast, dem See, dem Wald...

„Sie hätte gewollt, dass du es bekommst. Sie hat es leider nie geschafft, zum Gebirge zu reisen, oder einen Zentauren zu zeichnen. Vielleicht kannst du es vollenden", sagte William leise und ich schluckte.

„Ich... ich werde es versuchen", hauchte ich und wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Danke", fügte ich hinzu und verstaute das Skizzenbuch in meiner (viel zu vollen) Satteltasche. In genau dem Moment kamen Yilva und Henry zurück und ich wusste, dass es Zeit war aufzubrechen.

„Wenn ihr es heute noch bis zum Waldrand schaffen wollt, dann solltet ihr aufbrechen", sagte Yilva sanft und lächelte. Henry nickte und stieg bereits aufs Pferd.

Ich hingegen hatte noch etwas zu erledigen.

Bevor ich viel zu lange darüber nachdachte, ging ich noch einmal zu meinem Onkel und umarmte ihn.

William war überrascht, aber genauso schnell erwiderte er die Umarmung und drückte mich an sich.

„Komm heil zurück", sagte er leise und ich nickte.

„Versprochen", antwortete ich, ehe ich mich von ihm löste und zu Pocahontas ging. Ich hievte mich in den Sattel und Henry sah mich fragend an.

Stumm gab ich ihm das Zeichen, dass ich bereit war und fast sofort setzten wir uns in Bewegung. Kurz bevor wir den Waldweg erreichten, der uns auf den direkten Weg zum Dunkelwald führte, drehte ich mich noch einmal um und sah meinen Onkel neben Yilva stehen.

Er sah uns nach und obwohl ich auf die Distanz seinen Gesichtsausdruck nicht mehr wirklich deuten konnte, wusste ich genau wie er uns nachsah.

Er würde sich wahrscheinlich die gesamte Zeit Sorgen machen und allein der Gedanke versetzte mir einen leichten Stich. Er hatte bereits so viel verloren.

Er hatte meine Großeltern verloren und er hat Mum nie wiedergesehen, nachdem sie Avaglade verlassen hatte. Und jetzt verließ ich ihn. Zwar nur für eine gewisse Zeit, aber niemand von uns wusste, wie diese Reise ausgehen würde.

„Erin?"

Ich hatte nicht gemerkt, dass ich Pocahontas das Zeichen zum Anhalten gegeben hatte. Henry hatte Salima gewendet und sah mich besorgt an.

„Alles in Ordnung?"

Ich nickte und trieb Pocahontas wieder an, die sich sofort wieder in Bewegung setzte.

„Ich bin nur nervös", sagte ich leise und Henry lächelte aufmunternd.

„Verständlich. Aber du wirst sehen, in Nullkommanichts sind wir wieder zurück und dann wissen wir, was mit Lenori geschehen ist und wer für ihren Tod verantwortlich ist", sagte er und ich rang mich zu einem Lächeln durch.

„Ja..." Und ich werde wissen, was wirklich mit Mum und Dad passiert ist!

Avaglade - Reise durch Lavandia (Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt