26. Kapitel - Henry

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Ich wollte nicht aufwachen. Noch immer hing der Traum in mir nach, den ich gehabt hatte und in dem Erin und ich zusammen auf einer Wiese lagen und in die Wolken schauten.

Sie hatte gelächelt und mich dann angesehen. Und dann, gerade als wir uns küssten, hörte ich Hufgetrappel, welches einfach nicht in den Traum passen wollte.

Und jetzt nahm ich immer mehr von meiner Umgebung war. Ich hörte das leise Lied des Windes und Gesprächsfetzen der Zentauren.

Ich blinzelte müde in das Morgenlicht und gähnte, nur um dann festzustellen, dass Erin nicht mehr neben mir lag. Ich rieb mir durchs Gesicht und streckte mich.

Mitten in der Bewegung hielt ich inne.

Vor Erins Tasche lag ein Buch. Ein abgegriffenes, zerfleddertes Buch und als ich es an mich nahm und aufschlug, schluckte ich.

Eine Seite war rausgerissen und ich wusste auch genau, welche Seite das war.

„Das kann nicht..."

Ich krabbelte aus dem Zelt und trat hinaus in das Treiben der Zentauren. Einige der Zentauren kamen wohl gerade von der Jagd zurück und ich sah zu unseren Pferden.

Beide Pferde waren friedlich am Fressen und kurz keimte in mir die Hoffnung auf, dass ich mich irrte.

Erin war sicher nur schon hier draußen irgendwo. Vielleicht ist sie auch zum Fluss runter, um sich zu waschen.

„Ah, junger Hüter. Du und deine Gefährtin sollten langsam aufbrechen, wenn ihr noch heute den Waldrand erreichen wollt", sagte Thanatos und kam auf mich zu.

„Wo ist Erin?", fragte ich und hoffte, er würde mir einfach sagen, dass sie am Fluss sei. Oder irgendwo hier im Lager.

„Ich habe sie heute noch nicht gesehen. Ich ging davon aus, dass sie noch schlafen würde", gab Thanatos zurück. Ich fuhr mir durchs Haar.

„Sie ist weg... sie ist ohne mich los..."

Ich wusste nicht, was schlimmer war. Die Tatsache, dass sie einfach abgehauen war, ohne mir etwas zu sagen, um diesen verdammten Spiegel zu suchen, oder die lähmende Angst, dass sie womöglich von Löwenbären zerfleischt wurde.

„Ihr Pferd ist noch hier. Sicher, dass sie nicht einfach nur ein wenig spazieren gegangen ist?"

„Sie ist nicht schon in Richtung Gebirge vorgegangen", sagte ich und schluckte.

„Sie ist zu einer Höhle, nördlich der Löwenbären-Höhlen unterwegs. Bis zu den Höhlen, wie lange bin ich unterwegs?", fragte ich und sah Thanatos an.

Vielleicht konnte ich Erin noch einholen. Die Sonne ist vor nicht allzu langer Zeit erst aufgegangen. Wenn sie in der Morgendämmerung losgelaufen ist, dann könnte ich sie einholen.

„Zu Fuß? Etwa einen halben Tag", gab Thanatos zurück und ich sah Richtung Himmel.

„Sie ist schon dort...", sagte wieder diese Stimme, die so täuschend echt, nach Lenori klang, dass ich langsam wirklich glaubte, meinen Verstand zu verlieren.

Ich drehte mich um und sah zum Waldrand. Ich hörte lediglich das Plätschern des Flusses in einiger Entfernung und dann fing ich Thanatos Blick auf.

„Henry?", fragte er und ich fuhr mir durchs Haar.

Noch nie hatte ich mich so verraten gefühlt. Hatte Erin das die ganze Zeit geplant? Sobald wir im Dunkelwald waren, abhauen und den Spiegel suchen? Obwohl wir klipp und klar darüber gesprochen hatten?

„Sie ist schon an den Höhlen. Ich bin mir sicher... Verdammter Mist!"

Ich raufte mir die Haaren und konnte nicht fassen, dass sie mir das wirklich antat.

„Dann ist sie äußerst töricht und in großer Gefahr. Die Löwenbären sind zu dieser Zeit des Jahres immer besonders angriffslustig. Sollte sie einem hungrigen Löwenbären begegnen...", sagte Thanatos nachdenklich und ich schluckte.

Erin hätte keine Chance. Wenn sie Glück hatte, dann wäre sie auf der Stelle tot, doch wenn nicht...

„Ich schlage vor, wir machen uns sofort auf den Weg. Palim wird eure Pferde und Sachen zum Waldrand bringen, wo sie auf euch warten werden", sprach Thanatos weiter und ich sah ihn verwirrt an.

„Wir werden ewig brauchen...", fing ich an, doch der Zentaur unterbrach mich, indem er sich hinkniete und mir zu verstehen gab, dass ich aufsteigen sollte.

Ich zögerte, doch die Sorge, dass Erin irgendwo verletzt im Wald liegen- und sterben könnte, war stärker als alle Bedenken.

Ich stieg auf Thanatos' Rücken und sofort setzte der Zentaur sich in Bewegung.

Es war bewundernswert, wie schnell Thanatos sich zwischen den Bäumen hindurchbewegen konnte, ohne ein einziges Mal ins Stolpern zu geraten.

Ich hielt mich an ihm fest und ignorierte die Äste, die mir ins Gesicht schlugen und Kratzer hinterließen.

Ich hoffe es geht ihr gut und ich hoffe, ich bin nicht zu spät!

Ich wusste, dass Erin den Spiegel nach ihren Eltern fragen würde. Und auch wenn ich sie verstehen konnte, durfte ich das nicht zulassen.

Der Spiegel war jetzt das Einzige, was uns dabei helfen konnte, die Wahrheit herauszufinden.

Warum hast du nicht mit mir darüber geredet! Wir hätten gemeinsam eine Lösung gefunden. Verdammt Erin... wie kannst du mir das nur antun!

Ein weiterer, unschöner Gedanke kam mir in den Sinn.

Hatte sie den Kuss nur erwidert, weil sie gehofft hatte, dass ich sie davonkommen lassen würde? Damit sie sich mitten in der Nacht wegschleichen konnte? Als Ablenkung? Hatte der Kuss ihr überhaupt etwas bedeutet?

Thanatos wurde langsamer und blieb dann ganz stehen. Der Wald lichtete sich und durch die Bäume hindurch sah ich eine Lichtung.

Südlich von uns hörte ich das Brüllen von Löwenbären und langsam rutschte ich von Thanatos' Rücken herunter.

„Ich schaue mich in der Nähe um. Löwenbären lassen uns Zentauren in Ruhe, also bin ich weniger in Gefahr. Wenn du deine Gefährtin gefunden hast, dann bringe ich euch beide zum Waldrand..."

Vorausgesetzt, Erin lebt noch und ist soweit unverletzt...

Obwohl Thanatos die Worte nicht aussprach, hingen sie förmlich zwischen uns in der Luft. Ich nickte und ging dann auf die Lichtung zu.

Die Höhle war unschwer zu erkennen und mich überkam sofort ein ungutes Gefühl.

Der kleine Bach, floss genau in die Höhle hinein und weit und breit war keine Spur von Erin zu sehen.

Ich ging auf die Höhle zu und mit jedem Schritt wurde mein Herz schwerer.

Wenn Erin da drin war und den Spiegel gefunden- und benutzt hat... dann hat sie nicht nur mich verraten, sondern auch Lavandia.

Und wenn sie nicht da drin war, dann musste ich vom Schlimmsten ausgehen.

Dann konnte sie hier, irgendwo im Wald liegen, blutend und verletzt, vielleicht sogar tot.

Und ich hätte nie die Möglichkeit gehabt, mit ihr über den Kuss zu reden und zu klären, was das nun bedeutete.

Wenn der Kuss für sie überhaupt eine Bedeutung hatte...

War sie vielleicht auch gerade deshalb weggegangen? Hatte ich sie mit dem Kuss überfordert?

Ich blieb stehen, als sich ein Schatten aus der Höhle löste und langsam auf mich zu kam.

Ich schluckte, als Erin ins Licht trat und mich mit großen Augen, geschockt ansah. In ihrer rechten Hand hielt sie etwas fest und ich schluckte, als mir klar wurde, was es war.

In ihrer Hand hielt sie einen kleinen, goldenen Handspiegel. Die Sonne spiegelte sich auf dem kaputten Glas und Erin blieb stehen.

„Henry...", sagte sie leise und sah mich an.

Deutlich sah ich die Schuld und die Reue in ihrem Blick, aber das alles, prallte an mir ab.

Sie hatte es wirklich getan. Sie hat Lavandia verraten.

Avaglade - Reise durch Lavandia (Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt