12. Kapitel - Henry

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Es herrschte absolute Stille. Noch immer hingen die Worte, die ich gerade gelesen hatte, in der Luft. Ganz langsam ließ ich den Brief sinken und wusste dabei nicht, was ich sagen sollte.

Ich suchte nach den richtigen Worten, aber mir wollte einfach nichts einfallen. Was könnte ich auch schon sagen?

„Sie wusste es..."

Erin stand auf und ich sah ihr dabei zu, wie sie anfing unruhig auf und ab zu laufen.

„Sie wusste es... sie wusste es... sie... sie wusste es..."

Langsam stand ich auf und ging auf sie zu. Noch immer lief sie unruhig auf und ab und murmelte dabei immer wieder dasselbe.

„Erin...", fing ich an, doch ich hatte keine Ahnung, wie ich fortfahren sollte.

„Sie hat es gewusst... sie... sie wusste, dass sie...", fing sie wieder an und ich bemerkte, wie sie ihre Hände zur Faust ballte.

„Sie hat es gewusst!"

Im Kamin loderte das Feuer hell auf und Erin wich erschrocken zurück.

„Schon okay", sagte ich schnell und nahm den Schürhaken. Vorsichtig machte ich das Feuer wieder aus und drehte mich dann zu ihr um.

„Alles okay?", fragte ich und bereute die Frage sogleich wieder. Erin sah mich mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Wut an.

„Ob alles okay ist? Du fragst mich ernsthaft, ob alles okay ist?"

„Tut mir leid, ich..." „Nichts ist okay! Es ist nicht einmal ansatzweise auch nur minimal okay! Meine Mum... meine Mum wusste... sie wusste, dass sie..."

Sie brach ab, fuhr sich durchs Haar und fing wieder an unruhig auf und ab zu laufen.

„Erin... es tut mir leid", sagte ich leise und ging auf sie zu. Noch immer lief sie auf und ab und es wirkte so, als hätte sie mich überhaupt nicht gehört.

Sie war wieder völlig in ihren eigenen Gedanken versunken und ich hatte absolut keine Ahnung, was ich machen sollte.

„Sie wusste es, Henry. Sie hat gewusst, dass sie sterben wird. Sie wusste, dass ich überlebe und ich habe nur überlebt, weil ich eine verdammte Affinität zum Feuer habe. Sie wusste, dass sie sterben wird. Sie... sie..."

„Hey...", sagte ich leise und nahm sie in den Arm. Ich drückte sie fest an mich und strich ihr beruhigend über den Rücken, während sie weinte und immer wieder vor sich hinmurmelte, dass ihre Mum es gewusst hatte.

Nicht einmal ansatzweise konnte ich mir vorstellen, wie sie sich fühlen musste. Und gleichzeitig wuchs mein Respekt vor Ruby ins unermessliche.

Mein Vater war der festen Überzeugung, dass hinter ihrem Weggang und dem Auftauchen von Erin ein Plan steckte. Doch die Wahrheit war, dass Ruby einfach versucht hatte sich und ihre Familie zu beschützen.

Sie hat jahrelang mit dem Wissen gelebt, dass sie sterben würde. Und ja, theoretisch sterben wir alle irgendwann und sind uns dieser Tatsache bewusst. Doch für Ruby musste es klar gewesen sein, dass es kein natürlicher Tod sein würde.

„Es war kein Unfall..."

Erin schob mich weg und verwirrt sah ich sie an. Ihre Augen waren gerötet, aber sie sprach jetzt mit klarer, fester Stimme.

„Was meinst du?", fragte ich und seufzte leise, als Erin wieder anfing auf und ab zu laufen.

„Ihr Tod... es war kein Unfall. Die Feuerwehr meinte, dass es ein Gasleck gegeben haben müsste und Mum oder Dad hätten ein Streichholz, oder ein Feuerzeug entzündet. Aber das kann nicht stimmen!"

Avaglade - Reise durch Lavandia (Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt