10. Kapitel - Henry

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Wütend stopfte ich so viele Sachen wie möglich in eine Tasche und kramte alles zusammen, was ich außerdem für die Reise durch Lavandia brauchen würde.

Noch immer fiel es mir schwer zu atmen und nach wie vor brannten Tränen in meinen Augen, die ich ignorierte und versucht zurückzuhalten.

Als ich mein Zimmer verließ hörte ich Cathie in ihrem Zimmer lauthals lachen und mit ihren Freundinnen telefonieren. Ich lief die Treppe runter und schlüpfte in mein Schuhe.

„Wo willst du hin? Es gibt gleich Abendessen!"

Ich ignorierte meinen Vater und band die Schnürsenkel zu, ehe ich zu meiner Sweatshirtjacke griff.

„Henry Flynn Nox, ich rede mit dir! Wo willst du hin?" Mein Vater wurde lauter und ich sah ihn nicht an, als ich antwortete.

„Keine Ahnung... Hauptsache weg von hier!"

Ich zog mir die Jacke über und griff nach meiner Tasche. Ich wollte die Haustür öffnen, aber Dad griff nach meinem Handgelenk und hielt es eisern fest.

„Du gehst nirgendwo hin", sagte er und sah mich drohend an. Ich entzog ihm mein Handgelenk und öffnete die Haustür.

„Wenn du jetzt gehst..."

„Was dann?", fragte ich wütend und wirbelte zu ihm herum. Mein Vater sah mich, mit einem vor Wut verzerrten Gesicht an und sein Körper bebte.

„Ich warne dich, Henry. Gehst du jetzt durch diese Tür, wird das für dich Konsequenzen haben. Du wirst jetzt deine Sachen nehmen und zurück auf dein Zimmer gehen", sagte er leise.

Unsere Blicke trafen sich, aber dieses Mal würde ich nicht nachgeben. Dieses Mal würde ich nicht klein bei geben und den Kopf einziehen.

Ich schluckte und spürte deutlich wie sich immer mehr Tränen in meinen Augen sammelten. Alles an dieser Situation war falsch und es verletzte mich mehr, als ich jemals geglaubt hätte.

Ich hatte gewusst, dass mein Vater mir gegenüber keine Sympathie hegte und sich wünschte, dass Cathie an meiner Stelle wäre. Doch mit einhundert prozentiger Sicherheit zu wissen, dass er mich abgrundtief hasste...

„Geh auf dein Zimmer. Sofort!", spuckte er mir entgegen und griff nach meiner Tasche. Ich zog sie ihm weg und trat nach draußen. Ohne mich noch einmal zu ihm umzudrehen, lief ich den Weg entlang.

„Henry! Henry Flynn Nox! KOMM SOFORT ZURÜCK!!!"

Ich ignorierte das wütende Brüllen meines Vaters und lief einfach weiter, bis ich schließlich auf dem Rathausplatz stand. Die Straßen waren wie leer gefegt und ein kalter Wind war aufgekommen. Ich spürte den Regen, noch bevor die ersten Tropfen auf die Erde fielen.

Wohin jetzt?

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Statue und fuhr mir durchs Haar. Dabei streiften meine Finger etwas Nasses und erst jetzt bemerkte ich die Tränen, die mir über die Wangen liefen und nicht aufhören wollten.

Was soll ich jetzt tun?

Kurz überlegte ich, Mum anzurufen, doch dann entschied ich mich doch dagegen. Sie hatte mir heute Mittag eine Nachricht geschrieben, dass sie vorerst in Perth in einem Hotel untergekommen war.

Und bis nach Perth würde ich mehr als eine Stunde mit den Öffentlichen fahren müssen. Und wie sollte ich ihr erklären, was passiert war, ohne dass sie sich schuldig fühlte?

Mein nächste Gedanke waren Jason, Kaden oder Cory. Aber Cory war gerade sauer auf mich, weil meine Schwester ihm einen riesen Mist aufgetischt hatte.

Und außerdem wäre es keine gute Idee, zu meinen Freunden zu gehen, um die Nacht bei ihnen zu verbringen. Morgen Abend müsste ich nach Lavandia und wie sollte ich erklären, dass ich die nächsten zwei bis drei Wochen weg sein würde?

Der Regen setzte ein und ich nahm meine Tasche und lief einfach los. Ich hatte kein Ziel und auch keine Idee, wo ich hin sollte. Völlig planlos irrte ich durch die Straßen von Avaglade. Meine Füße trugen mich von ganz allein zum McAlistair-Anwesen.

Im Haus brannte Licht, aber ich wandte mich ab und stapfte müde, erschöpft und völlig durchnässt in den Wald. Vielleicht könnte ich zum Palast laufen und schon heute Nacht dort bleiben.

Ich könnte die letzte Vorbereitungen von dort aus treffen. Allerdings wäre das auch der erste Ort, an dem mein Vater nach mir suchen würde.

Ich blieb stehen, stellte meine Tasche ab und setzte mich zwischen die hervorstehenden Wurzeln eines alten Baumes. Der Regen wurde stärker und ich winkelte die Knie an und schlang meine Arme um sie.

Müde legte ich den Kopf auf meine Knie und ignorierte die Kälte, die langsam in meine Glieder kroch. Meine Sachen waren längst völlig durchnässt und meine Haare klebten auf unangenehme Weise in meinem Gesicht.

Ich schloss die Augen und konnte nun wirklich nichts mehr dagegen tun, loszuheulen wie ein kleines Kind. Ich schluchzte jämmerlich vor mich hin, während der Regen unaufhörlich auf mich nieder prasselte.

Mein ganzes Leben war beschissen. Wirklich alles was schief laufen konnte, lief gerade schief. Mein bester Freund hasste mich. Meine Familie ist auseinander gebrochen. Mein Vater hasste mich und ich wusste nicht wieso und zu guter Letzt war ich jetzt auch noch obdachlos.

Wann verdammt hatte mein Leben angefangen, so dermaßen aus dem Ruder zu laufen?

Als Erin hier aufgetaucht ist...

Der Gedanke kam wie von selbst und ich zuckte zusammen. So wollte ich nicht denken.

Aber es ist wahr... Wirklich schlimm wurde es erst, als Erin hier aufgetaucht ist. Cory wäre niemals sauer auf mich, wenn sie nicht wäre. Der Streit mit Dad wäre nie so zustande gekommen...

Zitternd atmete ich ein und zog meine Jacke dichter um mich. Allerdings brachte mir das nicht allzu viel, denn meine Klamotten waren so durchnässt, dass ich jetzt locker hätte schwimmen gehen können, ohne dass es aufgefallen wäre.

Im Endeffekt wusste ich nicht wie lange ich so da saß. Ich merkte nur, wie es immer dunkler und kälter wurde. Der Regen ließ in keiner Sekunde nach und mit jeder Minute wurde mir kälter und kälter.

Müde kämpfte ich mich auf die Beine, nahm meine durchweichte Tasche vom Boden auf und lief los. Und ein zweites Mal trugen meine Beine mich zum Anwesen von William und Erin.

Mittlerweile war der Großteil des Hauses in Dunkelheit gehüllt und als gäbe mir das Schicksal einen Wink, ging im Flur das Licht an. Müde ging ich auf das Anwesen zu und klopfte gegen das feuchte Holz der Eingangstür.

Und jetzt lag ich im Gästezimmer und wälzte mich unruhig von einer Seite auf die Andere, weil ich nicht einschlafen konnte. Dabei merkte ich selbst, wie müde ich war und wie jeder Teil meines Körpers nach Schlaf verlangte. Und trotzdem fand ich keine Ruhe.

Ich stand auf und ging zum Fenster. Der Regen hatte sich gelegt und kurz öffnete ich das Fenster, um die frische Luft in den Raum zu lassen.

Noch immer war ich davon überwältigt, dass William mich aufgenommen hatte, ohne groß Fragen zu stellen. Ich hatte zumindest damit gerechnet, dass er wissen wollte, was vorgefallen war. Doch nichts.

Er hatte mir die Möglichkeit gegeben mich aufzuwärmen und mir dann angeboten, die Nacht hier zu bleiben. Selbst als ich ihn darum bat, meinem Vater nicht zu sagen dass ich hier war, hatte er keine Fragen gestellt.

Er hatte sogar dafür gesorgt, dass zumindest ein Teil meiner Kleidung trocknete, damit ich etwas zum Schlafen- und für morgen zum Anziehen hatte. Die restlichen Sachen lagen draußen vor der Zimmertür.

Seufzend schloss ich das Fenster wieder und ging zurück ins Bett. Ich kuschelte mich tief in die Decke ein und vergrub mein Gesicht im Kissen.

Ob Dad sich zumindest ein ganz klein wenig um mich sorgt?

Ich bezweifelte es, aber ein kleiner Teil von mir (wahrscheinlich der Teil, der noch immer ein kleiner Junge war und von seinem Dad geliebt werden wollte) wünschte sich dies ungemein.

Avaglade - Reise durch Lavandia (Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt