19. Kapitel - Erin

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Als wir dem Waldrand immer näherkamen, hatten wir uns bereits dazu entschieden, nicht weiter zu reiten. Der Regen hatte stark zugenommen und es wurde von Minute zu Minute unangenehmer, auf dem Pferd zu sitzen.

So schnell wie möglich hatten wir das Zelt aufgebaut und unsere Sachen hineingeworfen. Die Pferde hatten sich weiter ins Dickicht zurückgezogen und fasziniert hatte ich Henry dabei zugesehen, wie er die Feuchtigkeit aus ihrem Fell gesogen hatte. Magie war wirklich unglaublich!

„Ich denke ein Feuer können wir heute vergessen", sagte Henry und kam ins Zelt gekrabbelt. Er fuhr sich durchs Haar und verzog das Gesicht.

„Sieht nicht so aus, als würde es heute noch aufhören, oder?", fragte ich und sah von meinem Skizzenbuch auf. Henry schüttelte den Kopf und ließ sich auf seinen Schlafsack fallen.

Wir hatten eine ganze Weile gebraucht, die Sachen wieder trocken zu bekommen, obwohl die Satteltasche eine ganze Menge Wasser hatten abfangen können.

Zumindest die Sachen, die ganz unten gelegen hatten, waren trocken geblieben. Zum Glück. Sonst wäre das Skizzenbuch hin gewesen.

„Ich hoffe morgen ist das Wetter besser. Auf der Ebene wären wir dem Regen völlig ausgeliefert und auch wenn wir die Pferde und die Sachen schnell trocken bekommen... ich möchte ungern krank werden", sagte Henry und seufzte.

„Ich bin mir sicher, dass morgen gutes Wetter wird", gab ich zurück und sah zufrieden auf mein Bild.

Ich hatte es mir irgendwie zur Aufgabe gemacht, das Werk meiner Mum zu vollenden und dieses Buch zu vollenden. Aber auf meine Weise.

Deshalb hatte ich zwei Reiter gemalt, die auf ein Gebirge zuritten und unter dem Bildausschnitt, hatte ich „Erin's Reise" geschrieben.

Ich wusste, dass Mum es so gewollt- und es geliebt hätte. Und ich würde die letzten Seiten mit den Wesen aus dem Dunkelwald und dem Gebirge füllen.

„Alles okay?"

Henrys Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich wischte mir schnell eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Ja, ich... ich hab nur gerade...", sagte ich und seufzte. Henry setzte sich auf und rutschte etwas näher, sodass er ein Blick auf das Buch werfen konnte.

„Wow... ich wusste nicht, dass du so gut zeichnen kannst", sagte er beeindruckt und ich lächelte schüchtern.

„Danke... die hier sind von Mum", murmelte ich dann leise und blätterte einige Seiten zurück.

„Wow... sie war unglaublich talentiert... Hey, das ist Liron", sagte Henry und lächelte. Ich nickte.

„Ja, ich hab ihn auch sofort erkannt. Hier sind Yilva und Merylin", sagte ich und blätterte eine Seite weiter. Fasziniert betrachtete Henry die Zeichnungen.

„Sie sehen so realistisch aus. Als hätte sie einfach ein Foto gemacht", sagte er leise und vorsichtig blätterte er ganz zum Anfang zurück, bis er ihr Selbstportrait fand.

„Das ist sie", sagte ich leise und schluckte.

„Ehrlich? Sie... sie sieht aus wie du", gab Henry überrascht zurück und sah mich an.

„Ich meine... ich hätte jetzt wirklich gedacht, dass du das bist. Auch wenn deine Mutter ihren Namen daruntergeschrieben hat", fügte er hinzu.

„Ja... mein Onkel meinte auch, dass ich ihr verdammt ähnlichsehe. Und mein Vater hat immer gescherzt, dass ich mir ruhig auch in paar Merkmale von ihm hätte aussuchen können", gab ich zurück und lächelte bei der Erinnerung.

„Du vermisst sie bestimmt, sehr..."

„Schon, ja. Als ich noch in London gelebt habe, war es besonders schlimm. Ich hab immer geglaubt, dass das alles nur ein schlimmer Traum war und ich gleich aufwachen würde. Wenn ich irgendwo entlanggelaufen bin, wo ich mit ihnen zusammen gewesen bin, dann habe ich immer gehofft, dass sie mir entgegenkommen würden und alles gut sein würde...", erzählte ich und Henry sah mich mitfühlend an.

„Aber seit ich hier bin... ich fühle mich meiner Mum näher als je zuvor und auch wenn ich sie vermisse und mir wünsche, dass sie noch leben würde... es tut nicht mehr so weh", fügte ich hinzu und sah Henry kurz an.

„Klingt das bescheuert?", fragte ich und Henry schüttelte den Kopf.

„Nein... das klingt sogar ziemlich normal. Und nur weil es nicht mehr so weh tut, heißt das ja nicht, dass du sie vergisst, oder sie dir weniger wichtig sind", sagte er und ein Schatten huschte über sein Gesicht.

Es war nur ganz kurz, aber ich hatte es deutlich gesehen. Und obwohl er nicht wirklich mit mir darüber gesprochen hatte wusste ich, dass er an seinen Vater dachte. Zögernd sah ich ihn an.

„Du denkst an deine Eltern... an deinen Vater, oder?", fragte ich und Henry seufzte.

„Ich rede mir immer ein, dass mich seine Worte und sein Verhalten mir gegenüber nichts ausmachen sollte, aber...", er bracht mitten im Satz ab und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.

„Aber es macht dir etwas aus", beendete ich seinen Satz und Henry nickte leicht.

„Na ja... er ist dein Vater und auch wenn er schwierig ist... du bist sein Sohn und du liebst ihn. Auch wenn du es vielleicht gar nicht willst", gab ich zurück und Henry sah mich an.

„Klingt das bescheuert?", fragte er und wir beide mussten leise lachen.

„Nein... das klingt sogar ziemlich normal", wiederholte ich seine Worte amüsiert und Henry lächelte.

„Danke", sagte er dann und ich runzelte die Stirn.

„Wofür?", fragte ich und Henry zuckte mit den Schultern.

„Dass du zuhörst. Ich habe noch nie mit jemanden so wirklich darüber geredet. Also über die Beziehung mit meinem Dad..."

„Nicht einmal mit deinen Freunden?", fragte ich und Henry schüttelte den Kopf.

„Sie wissen, dass unser Verhältnis nicht wirklich gut ist. Aber... ich habe ihnen gegenüber noch nie erwähnt, wie es mir damit geht. Also, danke Erin", sagte er und lächelte.

„Nicht dafür", gab ich leise zurück und einer Eingebung folgend schlang ich meine Arme um ihn und umarmte Henry. Er erwiderte die Umarmung fast sofort und lächelnd genossen wir beide diesen Moment.

Avaglade - Reise durch Lavandia (Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt