1. Verschwundenes Kind

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1. Verschwundenes Kind

Ava

Ich schrecke auf und stelle erleichtert fest, dass ich nicht in meinem Bett in Sheffield liege, sondern im Bett des Gästezimmern meines Bruders. Hier schlafe ich seit knapp einem halben Jahr und so langsam finde ich mich wieder zurück ins Leben. Jamie und meine Schwägerin Millie sind immer für mich da und meine drei kleinen Nichten geben mir jeden Tag Gründe, um zu lächeln. Ich stehe auf und öffne das Fenster, schaue in die kalte Winternacht hinein. Der Himmel ist Sternenklar und ich versuche die Bilder meines Traumes zu vertreiben. Bilder, die vor einem halben Jahr harte Realität gewesen sind. Jamie hatte seine Drohung wahrgemacht und kam die knapp 130 Meilen zu mir gefahren. Ich hatte mich ins Bad eingeschlossen, als Sam betrunken nach Hause gekommen war und er auf mich losgehen wollte. Ich hörte es klingeln, dann Rufe, Gepolter und schließlich Jamies Stimme, wie er und Sam sich anbrüllten. Ich hörte, wie sie sich prügelten, schloss die Badezimmern auf und sah, wie Sam vor mir auf den Boden knallte. Jamie rieb sich die Hand und ich eilte zu ihm, fiel ihm erleichtert und weinend um den Hals.
Gemeinsam packten wir ein paar Sachen und er nahm mich mit zu sich.

Ich reibe mir übers Gesicht und versuche an etwas anderes zu denken. An zwei blaue Augen zum Beispiel, die mich vor ein paar Wochen angesehen hatten. Die dazugehörigen, geschwungenen Lippen, und den darauffolgenden Kuss. Er war einer von Jamies Kollegen. Gut, ich weiß nicjtmal, ob sie sich wirklich kennen, aber er ist Schauspieler, genau wie mein Bruder. Jamie hatte mich mit zu einer Veranstaltung genommen. Etwas lockerem. Ich sollte mal wieder unter Leute kommen. Der Abend war besser als erwartet und eins kam zum Anderen. Ich war erst am nächsten Morgen zurück gekommen. Jamie hat nichts gesagt, worüber ich dankbar war. Millie hatte mir nur zugezwinkert.

Henry ist ein charmanter und überaus gutaussehenden Mann, aber mehr als ein Abenteuer war er nicht. Ich bin noch nicht bereit für etwas Neues. Dennoch geht er mir nicht aus dem Kopf. Ich habe weder eine Telefonnummer, noch weiß ich, wo er wohnt. Und vermutlich ist das besser so.
Ich seufze und gehe ins Bad, klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht und trinke etwas. Ich höre kleine, nackte Füße über den Boden patschen und drehe mich um. „Elva Spatz, du solltest doch schlafen" sage ich liebevoll zu meiner 6 jährigen Nichte, die sich die Augen reibt. „Daddy schnarcht", murmelt sie und ich hebe sie hoch. Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals und legt ihren Kopf an meine Schulter. „Und warum gehst du dann nicht in dein Bett?" will ich wissen. „Darin spukt es", erklärt sie. „Das glaube ich nicht, Spatz. Es gibt keine Geister" versichere ich ihr. „Doch. Es quietscht und kratz", erklärt sie. „Soll ich nachsehen?" biete ich ihr an und sie nickt. Ich stelle sie vor der Zimmertür ab und öffne diese. Ich mache das Licht an, sehe mich um und horche. Tatsächlich höre ich ein leises Kratzen und Quietschen. Es kommt vom Fenster. Ich ziehe die Rollläden hoch und sehe den Übeltäter. Ein verknickter Zweig von dem Baum vor ihrem Fenster reibt über das Fensterglas. Ich öffne das Fenster und entferne den Zweig. „Siehst du. Kein Geist. Nur dieser kleine Zweig", zeige ich ihr und sie kichert. „Also ab ins Bett mit dir", bitte ich sie und sie schüttelt den Kopf. „Kann ich nicht bei dir schlafen?" bittet sie stattdessen und ich überlege kurz. Ja, warum nicht? So bringt auch sie mich auf andere Gedanken. „Aber nur heute", gebe ich nach und meine kleine Nichte mit dem wilden Lockenkopf kichert und ergreift meine Hand, die ich ihr reiche.

Jamie

Der Wecker reißt mich aus meinen Schlaf. Ich stelle dieses vermaledeite Ding aus und will Elva wecken, die sich letzte Nacht ins unser Bett geschlichen hat. Doch zu meiner Verwunderung ist sie nicht mehr da. Ich stehe auf, lasse meine Frau noch etwas schlafen, weil sie gestern Abend lange gearbeitet hat und schlurfe verschlafen und gähnende ins Bad.
Dann wecke ich die Mädchen. Zuerst Dee-Dee, meine Große, dann gehe ich zu Elva ins Zimmer. Ihr Bett ist leer. Wo ist das Kind? „Elva?" rufe ich und schaue in der Höhle unter ihrem Bert nach. Da ist sie auch nicht. Als ich in den Flur gehe, kommt sie verschlafen aus dem Gästezimmer. „Warst du etwa bei Avy?" frage ich meine Mittlere. „Hmh", antwortet sie und reibt sich ihre Augen. „Du sollst sie doch schlafen lassen", tadle ich. „Sie war heute Nacht wach und ich durfte bei ihr schlafen. Du hast geschnarcht", rechtfertigt sich meine Tochter und ich schnaufe. Was soll ich dazu schon sagen. „Nun gut. Jetzt aber ins Bad und Zähne putzen", scheuche ich sie und sie flitzt zu ihrer großen Schwester ins Bad.
Alberta ist kuschelig und verschmust, wie jeden Morgen, als ich sie wecke und hängt sich natürlich an meinen Hals.
Ich helfe meiner 3-Jährigen beim Zähneputzen und auch beim Anziehen. Eigentlich kann sie das alleine, aber dann hat sie immer etwas falsch herum an, oder trödelt fürchterlich. Aber wir haben nicht ewig Zeit.
Ich will gerade mit Bertie nach unten gehen, als meine Schwester die Tür zum Gästezimmer aufreist, ins Bad hechtet und sie sich lautstark übergibt. Ich verziehe das Gesicht. „Bertie, Spatz, gehst du schon runter? Ich komme sofort nach und mache Frühstück", bitte ich meine Kleinste und warte, bis Ava aus dem Bad kommt. „Alles Okay? Brauchst du was?" frage ich meine kleine Schwester und sie schaut mich giftig an. „Lass mich in Ruhe", mault sie und verkrümelt sich zurück in ihr Zimmer. Ich bleibe verdutzt stehen und frage mich, was das gerade war. Sie ist doch sonst nicht so. Ich schüttle den Kopf und gehe runter, kümmere mich um das Frühstück.

Nachdem ich die Kinder in die Schule und den Kindergarten gebracht habe, wird es auch für mich Zeit, mich fertig zu machen. Als ich am Bad vorbeikomme, höre ich Ava erneut würgen. Ich frage mich, wo sie sich etwas eingefangen haben könnte, denn sie ist die meiste Zeit hier zuhause.
Sich den Mund abwischend kommt Ava wieder aus dem Bad. „Hast du dir was eingefangen? Soll ich dir einen Tee machen?" biete ich ihr an. Sie zuckt mit den Achseln. „Weiß nicht. Ich war doch nirgends. Tee wäre lieb", bittet sie und ich drücke ihr einen Kuss an die Stirn. „Geh ruhig wieder ins Bett. Ich bringe dir deinen Tee." Ich mache mir Sorgen um meine Schwester. Das tue ich immer. Und vor allem seit ich sie aus diesem Höllenloch bei ihrem Exfreund rausgeholt habe. Ich verwerfe den Gedanken schnell wieder. Ich will nicht am das blutige Gesicht und das zugeschwollene Auge meiner Schwester denken. Sie ist in Sicherheit und Sam wird sich von ihr fernhalten müssen. Dieser Dreckssack hat tatsächlich nur Bewehrung wegen schwerer Körperverletzung bekommen. Er hat keine Vorstrafen, nicht mal einen verdammten Strafzettel.
Aber er darf sich meiner Schwester nicht näher als einer Meile nähern. So die Gerichtsverfügung.

Ich machte ihr einen Tee und bringe ihn ihr schließlich ans Bett, doch sie ist schon wieder eingeschlafen. Ich streiche ihr über den Kopf und lasse sie in Ruhe.

Es war doch nur ein Mal (Henry Cavill FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt