26. Zurück

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26. Zurück

Ava

Noch immer Schwärze, die mich umgibt. Wie Watte umhüllt sie mich. Keinen Zeh kann ich rühren. Ich habe keine Angst, denn immer ist da eine mir bekannte Stimme. Und solange ich eine von ihnen höre, muss ich keine Angst haben. Da ist Henry. Ich verstehe nicht, was er sagt, doch ich spüre seine Hand. Und seine Lippen. Und dann lässt er mich los. NEIN! GEH NICHT!

Ich werde panisch, als ich keine Stimme mehr höre, keine Hand spüre, die mich hält. Nein! Ich will schreien, ich hab Angst.
Gleißendes Licht und ich kann nichts sehen. „Keine Angst“, höre ich und ganz langsam gewöhnen sich meine Augen an das Licht. Ich erkenne Umrisse. Erst nur Schemenhaft, dann Formen sie sich zu Möbel. Ich sehe Farben und ich erkenne ein Zimmer. Mein Zimmer. Nicht das bei Jamie. Zuhause in Belfast. Mein Kleiderschrank, mein Schreibtisch und mein Bett. Auf denen zwei Personen sitzen. „Mom! Dad!“, rufe ich und will zu ihnen laufen. „Komm nicht her!“, sagt Mom. „Deine Zeit ist noch nicht gekommen“, meint Dad. Meine Zeit? „Wo bin ich?“ will ich wissen. „Du bist dazwischen“, erklärt Mom. „Dazwischen? Wo zwischen?“ will ich wissen. Ich will zu meinen Eltern. Ich will sie in den Arm nehmen. „Du musst aufwachen, meine Kleine“ sagt Dad. Ich weine. „Aber ich will bei euch sein!“ „Das wollen wir auch, und das wirst du. Aber bis dahin ist noch lange Zeit. Du wirst gebraucht“, sagt Mom. „Nein, ich will nicht“. Ich trete einen Schritt auf sie zu. „Nein, Ava!“ sagt Dad streng. „Du musst zurückgehen!“ „Aber…“ „Nein! Das ist noch nicht der richtige Augenblick.“ Dad sieht mich streng an, so als hätte ich meine Hausaufgaben noch nicht gemacht. „Wenn es soweit ist, holen wir dich“, verspricht Mom. „Aber zuerst musst du dein Leben leben. Es wird wunderschön sein“ lächelt sie. „Henry…“ erinnere ich mich. „Ja, mit Henry. Ihr beide habt ein wunderbares Leben vor euch“, verspricht sie. Das klingt schön, aber ein Leben ohne unsere Eltern ist schmerzvoll. „Aber ihr fehlt uns“, jammere ich. „Wir sind immer bei euch, passen auf euch auf“, versichert mir Dad. Ich schluchze und wünsche mir, ich könnte sie in den Arm nehmen. „Sag deinen Geschwistern, dass wir sie lieben. Sag Jamie, dass sie einen Jungen bekommen. Er und Millie erwarten wieder ein Baby, aber sie wissen es noch nicht. Sag Liesa, sie muss keine Angst haben. Es ist kein Krebs. Und Jessica soll auf ihr Bauchgefühl hören. Das hat sie noch nie im Stich gelassen. Sie weiß, sie tut das  Richtige“, erzählt Mom und ich frage mich, ob das wahr sein kann. Träume ich? Aber ich sehe sie doch. Ich höre ihre Worte. „Aber ich…“ „Geh, meine Kleine. Es wird Zeit. Dein kleines Mädchen braucht dich. Sie braucht einen Namen", sagt Dad "Frag deinen Bruder, er hat einen wunderschönen Namen für sie“, meint Mom. Mein kleines Mädchen. Ich lege die Hand auf meinen Bauch. Meinen flachen Bauch. Mein Baby! WO IST MEIN BABY?
Das Licht entfernt sich mit einer rasenden Geschwindigkeit und ich rufe nach meinen Eltern. „Geh zurück!“ hallt Dads Stimme durch die Leere, in die ich wieder zurückgelassen werde. Zurück! Ich muss zurück! Zu meinem Baby!!!

Jamie

Müde und erschöpft sitze ich am Bett meiner Schwester. Meine Frau sitzt neben mir, hat ihre Hand auf meinem Oberschenkel liegen. Unsere Schwestern sind auf dem Weg hier her. Es ist endlich vorbei. Sam brach sich bei dem Sturz von der Treppe das Genick und war sofort tot. Henry liegt im Zimmer eine Station weiter, aber es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Sein Kehlkopf ist gequetscht und er hat ein paar Prellungen, sowie eine Platzwunde an der Stirn, aber er wird sich erholen. Sein Bruder und seine Schwägerin sind bei ihm. Vermutlich kann er morgen schon wieder entlassen werden.
„Komm schon, Schwesterchen. Wach endlich auf. Es ist vorbei. Niemand kann dir mehr wehtun“ sage ich beinahe verzweifelt. Ich will endlich aus diesem Alptraum aufwachen.
Millie streicht über meinen Rücken und ich lege Avas Hand an meine Wange, schließe die Augen. Ich bin so müde.
Plötzlich beschleunigt sich Avas Puls und sie ringt nach Luft. Ich erhebe mich und rede auf meine Schwester ein. Millie rennt aus dem Zimmer, um Hilfe zu holen. „Ava, hey. Shhh. Ich bin hier. Ich bin hier. Hörst du mich?“ rede ich auf sie ein und dann reißt sie ihre Augen auf, schnappt nach Luft, als würde sie aus dem Wasser auftauchen. Ich seufze erleichtert, doch das hält nur für Sekunden, denn sie beginnt, um sich zu schlagen, droht sich selbst weh zu tun. Ihre Hand ist noch in Gips, ihr Oberschenkel fixiert. „Ava, ruhig. Sie mich an, es ist alles gut, shhhh“, sage ich und halte ihre Hände fest. Sie entspannt sich und beginnt heftig an zu weinen. Ich schließe sie in meine Arme, so vorsichtig wie möglich und wiege sie. „Ssshhh. Es ist alles gut, Ava. Alles gut“ tröste ich sie. „Mein Baby… Wo ist mein Baby…wo ist meine Tochter?“ schluchzte sie. „Es ist alles okay.. es geht ihr gut“, sage ich sanft und streiche ihr die Tränen weg. Woher weiß sie, dass sie eine Tochter hat? Hat sie mitbekommen, wer bei ihr war?
Millie kommt mit einer Schwester zurück ins Zimmer und atmet erleichtert aus. „Ava, endlich“ sagt sie und legt sich die Hand aufs Herz. „Ich sage Henry Bescheid“ sagt sie und verlässt das Zimmer wieder. Die Schwester holt einen Arzt. Ava hat erschöpft die Augen geschlossen, ist aber ansprechbar. „Woher weißt du, dass du eine Tochter hast?“ frage ich sie und sie drückt meine Hand, öffnet wieder erschöpft die Augen. „Ich hab Mom und Dad gesehen“ sagt sie und ich schlucke. „Im Traum?“ frage ich. „Ich… Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, das es ein Traum war. Mom sagte, ich wäre im ‘Dazwischen‘ “, erzählt sie und ich drücke ihre Hand. „Haben sie noch was gesagt?“ möchte ich wissen und sie überlegt, sieht mich dann erschrocken an. „Liesa! Wo ist Liesa?“ will sie wissen. „Sie und Jessica sind auf dem Weg hier her“, sage ich. „Ich… Ich muss mit ihr sprechen“, meint sie. Ich weiß nicht, wovon sie redet. Vielleicht ist sie noch durcheinander, immerhin bekommt sie starke Schmerzmittel. „Das wirst du. Aber erstmal muss deine Konzentration auf dich liegen“, sage ich sanft und wieder schließt sie die Augen. „Wo ist Hen? Ist er bei unserem Mädchen?“ sich seufze. „Nein, er.. liegt auf einer Station den Flur hinunter.“ „Warum?“, will sie wissen. „Sam war hier.“  Sie reißt erschrocken die Augen auf. „Shhh. Keine Angst. Es ist vorbei. Es gab einen Kampf, aber es ist vorbei“, versichere ich ihr. „Wo ist er?“ fragt sie vorsichtig. „Er ist Tod. Er ist von der Treppe gestürzt.“ Sie schließt erleichtert die Augen und beginnt von Neuem an zu weinen. Ich lege vorsichtig die Arme um sie und wiege sie.
Der Arzt sieht nach ihr, gibt ihr weitere Schmerzmittel. Sie ist erschöpft und durcheinander, aber sie ist endlich wieder zurück.
Die Tür öffnet sich und Henry kommt herein. Er sieht echt fertig aus, aber vor allem steht ihm die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Ich erhebe mich und mache ihm Platz.
Er setzt sich und nimmt Avas Hand, die ihn müde anlächelt und ihre Hand an seine Wange legt. Henrys Kiefer mahlen aufeinander und ich kann sehen, wie sehr er mit sich ringt. Ich nehme Millies Hand und wir verlassen das Zimmer, geben den Beiden einen Moment für sich.

Henry

Da liegt sie in ihrem Bett und lächelt sanft. Endlich ist sie zurück. Ich hauche ihr einen Kuss in die Handinnenfläche und schließe die Augen, kann nicht anders und schluchze. All die Anspannung der letzten Tage fallen von mir ab. Ich bin ein nervliches Wrack und kann nicht glauben, dass der Alptraum endlich ein Ende hat. „Hey, nicht“ sagt Ava sanft. „Komm her“, bittet sie und ich lege mich ganz vorsichtig zu ihr, schließe sie in meine Arme. Ich will sie ganz fest an mich drücken, doch dann würde ich ihr wehtun. Aber das will ich nicht. Niemals wieder soll ihr irgendjemand wehtun. Ich schluchze leise und sie ist diejenige, die mich tröstet. Dabei sollte das doch ganz andersrum sein. Mein Schädel dröhnt und mein Hals tut weh. Aber jeder Schmerz ist mir egal, Hauptsache Ava ist zurück. Ich fühle ihre Fingerspitzen an meinem Hals, wo Sam zugedrückt hat und einen Kuss in Höhe des Pflasters an meiner Stirn. „War er das?“ flüstert sie und ich schaue auf, hauche ihr einen zarten Kuss auf die Lippen. „Es ist vorbei“, krächze ich und Ava erschrickt über meine Heiserkeit. „Hör auf, dir Gedanken zu machen. Es ist alles gut“, sage ich unter Anstrengung und sie kuschelt sich an mich. Wir schließen einen Moment die Augen und ich glaube sogar, dass wir beide ein bisschen schlafen. Bis sich die Tür öffnet und Claudia hereinkommt, den Inkubator hinter sich her ins Zimmer ziehend. „Ich habe gehört, da ist jemand wach geworden. Schön, sie wach zu sehen, Mrs. Dornan. Möchten sie ihr Baby kennenlernen?“ fragt sie und Avas Augen beginnen zu leuchten.
Ich stehe auf, nehme unsere Tochter heraus und komme zurück zu Ava, lege ihr das winzige Baby auf die Brust. Ava schluchzt. „Hey, mein kleines Mädchen. Hier ist deine Mommy. Ich bin so glücklich, dich endlich zu sehen“, schnieft sie und ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Claudia lässt uns allein und ich lege mich wieder zu Ava ins Bett, lehne meinen Kopf gegen ihren. „Sie braucht noch einen Namen“, sage ich irgendwann. „Jamie hat einen für sie“, meint Ava und ich schaue verwundert auf. „Ach ja? Welchen?“ „Ich weiß es nicht. Mom hat es mir gesagt“, meint sie, als sei es das logischste auf der Welt. „Du hast deine Mutter gesehen?“ „Ja. Sie und Dad. Sie haben mir gesagt, dass ich zurück muss um meine Tochter kennenzulernen. Und das mein Leben noch nicht vorbei ist. Dass wir beide ein glückliches Leben führen werden. Gemeinsam“, sagt sie und lächelt. Ich kann nicht anders, lege meine Lippen auf ihre und küsse sie. Sanft und zurückhaltend, aber voller Liebe.

Es war doch nur ein Mal (Henry Cavill FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt