23. Warten

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23. Warten

Jamie

Nervös laufe ich im Flur auf und ab, kaue dabei auf meinem Daumennagel. Seit zwei Stunden ist Ava im OP. Millie ist bei mir, und Jessica. Sogar Henrys Bruder Nicholas und seine Frau Charlotte sind hier. Ich wünschte, wir hätten uns zu einem anderen Ereignis kennengelernt. Liesa kommt sobald sie kann. Sie ist allein mit den Kindern.
„Jamie, jetzt setz sich doch mal. Das bringt doch nichts“ meint Jess zu mir und ich höre auf, auf meinem Daumen herumzukauen. So viel geht mir im Kopf herum und doch kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Ich hätte sie früher finden müssen. Aber wie zum Teufel hätte ich das anstellen sollen. Mich trifft keine Schuld. Aber wenn doch…? „Ach Hergott nochmal!“, fluche ich und setze mich neben Millie, die gleich meine Hand ergreift. „Dass es so lange dauert, kann auch ein gutes Zeichen sein“, versucht sie mich aufzumuntern, doch ich schnaufe nur. Henry hat vor zwei Stunden das letzte Mal angerufen. Da saß er bereits im Flugzeug und wartete auf den Start. Er würde noch etwa zwei Stunden in der Luft sein. Ich bin froh, nicht in seiner Haut zu stecken. Hier kann ich auch nicht viel mehr ausrichten, als wenn ich im Flieger sitzen würde, aber immerhin bin ich da.  
Mein Bein hüpft auf und ab, ich habe eine unglaublichen Bewegungsdrang, doch ich kann noch soviel hin und her laufen, es bringt alles nichts. Kaum jemand sagt ein Wort. Mir ist auch nicht nach Quatschen zumute. „Möchte noch jemand einen Kaffee, oder was anderes zu Trinken?“ fragt Nick irgendwann. Ein Kaffee wäre gut, obwohl ich am liebsten zur Zigarette greifen würde. „Ja gern, ein Kakao“, bittet Jessica und Millie möchte ein Wasser.
„Ich helfe dir“, sage ich und stehe auf, bin froh, darüber, mal nicht ziellos herumzulaufen. Nick und ich holen Wasser und Heißgetränke und ich hasse diesen mitleidigen Blick, den er mir zuwirft. „Kannst du aufhören, mich so anzusehen“, schnaufe ich, während wir warten dass der Kakao durchläuft. „Tut mir leid“, sagt er und nimmt den Kakao. Ich werfe die nächsten 50 Pens in den Automaten und ziehe einen weiteren Kaffee. „Das muss echt heftig gewesen sein“, meint er dann und ich nehme den Kaffee, wende mich zum gehen. „Klar, was auch sonst“, murmle ich und habe nicht vor, weiter darauf einzugehen. Nick versteht und schweigt.
Als wir zurück zu den anderen kommen, steht ein Arzt bei Ihnen. „Wir müssen das Baby umgehend holen, sonst verlieren wir es“, höre ich ihm sagen und mein Herz sackt in der Hose. „Sie ist doch erst in der 27. Woche“, sagt Jessica und Millie ergreift ihre Hand.
„Das wissen wir, aber sonst stirbt das Baby womöglich. Seine Herzöge sind sehr besorgniserregend. Wir haben eine sehr gute Neo Intensiv und werden dem Baby alles geben, was es braucht“, erklärt er. „Es ist wichtig, dass jemand nach der Geburt für das Baby da ist. Eine Stimme, die es schon kennt.“ Jessica sieht zu mir. „Geh du mit“, meint sie. Ich? „Du verbringst neben Henry die meine Zeit mit Ava“, sagt auch Millie und ich nicke. Ich gebe ihr einen Kuss, und folge dem Atzt, der mich in die Neo Intensivstation bringt, wo ich meine Hände desinfizieren muss und außerdem bekomme ich einen sterilen Kittel übergezogen. Dann muss ich warten.

Es dauert gefühlte Stunden, bis sich etwas tut. Die Tür öffnet sich und ein Inkubator wird hereingeschoben, indem ein winziges Baby liegt. Ich schlucke. Mein Neffe oder meine Nichte.
„Ihre kleine Nichte. Herzlichen Glückwunsch“, sagt eine Schwester. „Sie bekommt Sauerstoff zur Unterstützung der Atmung. Ansonsten ist sie ein starkes, kleines Mädchen“, erklärt sie und ich lächle. „Sie können ihr Händchen halten. Und reden sie mit ihr. Sie wird ihre Stimme sicher erkennen.“ Ich nicke und stecke vorsichtig meine Hand durch eines der Löcher, streiche über ihr kleines Köpfchen und nehme ihr winziges Händchen. „Sie hat die 1000 Gramm Marke schon geknackt. Das ist gut“, lächelt sie.
Noch nie in meinem Leben habe ich so ein winziges Menschlein gesehen. So klein und doch so stark. Und sie hat noch keinen Namen. Insgeheim denke ich mir, dass der Name unserer Großmutter zu ihr passt. Moms Mutter.
„Hey Kleines“, sage ich leise und streiche sanft über ihr Händchen mit den winzigen Fingerchen, die kaum dicker sind, als ein Streichholz. „Ich bin dein Onkel Jamie. Ich weiß, du hättest lieber deine Mommy, oder deinen Daddy an deiner Seite, aber das geht noch nicht. Aber bald, versprochen. Dein Daddy ist bereits auf dem Weg hier her. Er weiß noch gar nicht, dass du da bist. Eigentlich solltest du noch wohlbehalten im Bauch deiner Mama sein. Aber hier passen sie auch gut auf dich auf, sorgen dafür, dass du groß und stark wirst. Und ich bete zu Gott, dass deine Mommy bald wieder gesund wird.“ Und der Kerl, der ihr das angetan hat, wird bitter dafür büßen, füge ich in Gedanken hinzu und wünsche mir diesen Mistkerl den Tod. In der Hölle schmoren soll er!

Henry

Noch nie im Leben war mir ein Flug so elend lang vorgekommen. Nichteinmal die Langstreckenflüge nach Amerika. Ich will endlich bei Eva sein. Was erwartet mich dort? Mein letzter Stand war, dass Ava operiert wurde. Jamie hat sie leblos aber noch rechtzeitig im Wald gefunden. Ich fühle mich wie betäubt und bin gleichzeitig so unglaublich wütend. Noch ist nicht klar, wer Ava das angetan hat, doch wir sind uns ziemlich sicher,  dass Sam dahintersteckt. Jamie hat ihn zwar nicht eindeutig erkannt, aber er meint er hätte es gut sein können. Mehr Informationen habe ich nicht. Nicht wie schwer Ava verletzt ist, wie es unserem Baby geht.

Nach endlosen Stunden endlich, landet das Flugzeug und ich eile mit Kal los, sobald sich die Schleusen öffnen. Passkontrolle, dann Gepäckausgabe. Ungeduldig warte ich, bis ich meine Tasche erblicke, schnappe sie mir und hechte in die Flughafenhalle, wo mich mein Bruder Simon bereits erwartet. Er zieht mich in eine kurze, feste Umarmung und nimmt mir meine Tasche ab. „Hast du Neuigkeiten?“ frage ich ihn und er seufzt. „Sie mussten euer Baby holen“, sagt er und mir rutscht mein Herz in die Hose. Unser Baby? Ava ist erst in der 27 Woche. Das ist viel zu früh. „Geht es dem Baby gut?“ will ich wissen. „Ich weiß es nicht. Nick hat noch nicht wieder angerufen, aber das bedeutet nicht automatisch was Schlimmes.“ Ich seufze. Unser Baby ist doch noch viel zu klein. Es sollte noch nicht auf die Welt geholt werden.
Simon packt meine Tasche in den Kofferaum und ich lasse Kal hineinspringen. Normalerweise lasse ich ihn nach einem Flug noch eine kleine Runde laufen, doch ich will so schnell wie möglich zu Ava.
Simon fährt mich zum Krankenhaus, ich lasse Kal bei ihm und hechte in Gebäude, geradewegs in den Wartebereich vor dem OP. Ich sehe Nick und Charlotte da sitzen. Außerdem Millie und Avas Schwester Jessica. Von Jamie ist nichts zu sehen. Als mein Bruder mich erblickt, steht er auf und zieht mich in eine Umarmung. „Wie geht es Ava? Was ist mit dem Baby?“, will ich wissen. „Sie operieren Ava immer noch.  Sie hat starke innere Verletzungen“, erklärt Nick und ich schließe seufzend die Augen. Das ist ein Alptraum. „Und unser Baby?“ „Es ist auf der Neo Intensiv“, sagt Millie und ich nicke. „Ich bring dich hin“,  bietet sie an und ich folge ihr. „Danke, dass ihr hier seid“, bedanke ich mich bei Jamies Frau. „Das ist selbstverständlich, Henry. Wir wollen nirgendwo anders sein“, versichert sie mir. Als ich die Neo Intensiv betrete, streicht mir Millie über den Arm, lächelt mir aufmunternd zu und ich nicke dankbar. Ich muss meine Hände desinfizieren und bekomme einen Kittel an. Erst dann darf ich zu meinem Kind.
Ich sehe Jamie, der ebenfalls in einem Kittel an einem Inkubator steht und leise redet. Als ich die Tür schließe, wendet er seinen Kopf in meine Richtung. „Henry, endlich“, sagt er erleichtert, zieht seine Hand aus dem Inkubator und deutet mit dem Kopf darauf. „Komm, lerne deine kleine Tochter kennen“, sagt er aufmunternd und zum ersten Mal huscht ein kleines Lächeln über meine Lippen. „Eine Tochter…“ murmle ich und trete an den Brutkasten, sehe das winzige Baby. Ich schlucke und stecke zögernd meine Hand durch das Loch an der Seite. Ganz vorsichtig streiche ich über das Köpfchen. Ich blinzle aufsteigende Tränen weg. „Hey. Hier ist dein Daddy.“ Beim letzten Wort bricht meine Stimme und ich kann nicht, dass ein Schluchzen meiner Kehle entweicht.
Ich spüre Jamies Hand an meiner Schulter, die er sanft drückt und lasse zu, dass er mich umarmt. Diese Geste bedeutet mir unglaublich viel und gibt mir tatsächlich Kraft. Ich löse mich und schaue ihn an. Durch den durchsichtigen Kittel kann ich Blut an Jamies Klamotten sehen. IHR Blut. „Ich bringe ihn um“, knurre ich kaum hörbar, doch Jamie versteht, sieht mir fest in die Augen, presst die Kiefer aufeinander und nickt.
Dann klopft er mir auf die Schulter und lässt mich mit meiner Tochter allein. Ich betrachte sie, wage kaum, sie wirklich anzufassen. Sie wirkt so zerbrechlich.
Eine Schwester kommt herein und lächelt. „Herzlichen Glückwunsch“ sagt sie und erklärt mir dann, welches Gewicht meine Tochter hat, wie ausschlaggebend das ist und dass sie noch ein bisschen Unterstützung beim Atmen braucht. Aber sie ist stark. „Wollen sie sie halten?“ fragt sie dann und ich schaue überrascht. „Geht das denn?“ „Ja, unbedingt. Das ist sehr wichtig für ihre Entwicklung. Körpernähe, und die Wärme der Eltern tragen merklich für die Entwicklung und Gesundheit des Babys bei“, lächelt sie. „Setzen Sie sich“ bittet sie mich und deutet auf den bequemen Sessel. Ich komme ihrer Bitte nach. „Am besten mit freiem Oberkörper. Hautkontakt gibt am besten Wärme und so kann sie sich mit ihrem Geruch vertraut machen." Ich nicke und lege den Kittel, sowie meinen Pullover und das Shirt ab. Die Schwester nimmt vorsichtig meine Tochter aus dem Inkubator und legt sie mir an die Brust. Sie ist so unglaublich winzig. Ihre Atemzüge gehen schnell, sie verzieht das Gesicht und ein kaum hörbares Quietschen entkommt ihrer Kehle. „Shhshhshh“, mache ich. „Alles gut mein kleiner Spatz. Ich bin ja da. Daddy ist da“, sage ich sanft und sie entspannt sich, atmet nun ruhiger mit dabei geöffnetem Mündchen. Ich hauche ihr ein Küsschen auf den Kopf, schließe die Augen und atme ganz tief ihren Geruch ein. Mein Baby, meine Tochter.... Ich bin Daddy.

Es war doch nur ein Mal (Henry Cavill FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt