Kapitel 4

45 4 0
                                    

Charlie

Meine Bewegungen sind inzwischen schon so routiniert, dass ich sie hätte blind oder im Schlaf ausführen können.

Den ganzen Nachmittag schenke ich Getränke aus, fülle die Flaschen unterm Tresen wieder nach und plaudere zwischendurch mit Andrés oder anderen Kunden, die sich an die Bar gesetzt haben. Eigentlich höre ich mir nur ihre Lebensgeschichten an, ohne wirklich etwas zu machen. Manche brauchen einfach jemanden, der ein offenes Ohr für sie hat. Und wer passt da besser als eine Barfrau oder ein Barmann?

Am Ende meiner Schicht hat Sam die sauberen Gläser auf den Tresen gestellt, die ich abtrockne und dann ins Regal hinter mich stelle.

Sobald Andrés den letzten Kunden abkassiert hat, kommt er auf mich zu. Er greift nach dem anderen Tuch und will mir helfen, das Geschirr ab zu trocknen. Wie jedes Mal. Und wie jedes Mal sage ich: „Du musst das nicht machen." Lächelnd sehe ich ihn mit schief gelegtem Kopf an.
Andrés aber zuckt nur die Schultern, zwinkert mir zu - wie er halt ist - und erwidert: „Aber ich will. Und jetzt rück rüber." Mit einem Kopfnicken zur Seite, bei dem seine dunklen, gewellten Haare leicht wippen, deutet er mir, ihm Platz zu machen, was ich kopfschüttelnd auch tue.
Als alle Gläser verstaut sind, verabschieden wir uns alle. Ich steige in den Wagen, dann fahre ich nach Hause, wobei mich der Gedanke an einen betrunkenen Vater den ganzen Weg über verfolgt.

Und als keine Anzeichen von ihm auftauchen, lockere ich meine Schultern, bevor ich anschließend den Schlüssel im Schloss umdrehe und ins Haus reingehe.

„Miss Loman? ", ruft Marissa.

„Ja!" Ich lasse meine Schuhe unten stehen, bevor ich an der Küche vorbei gehe, um ins Zimmer zu gelangen. „Ist Ryder schon zu Hause?"

„In seinem Zimmer, Miss. Er hat Freunde bei sich.", informiert sie mich, wendet sich dann aber wieder dem Putzen zu. Als ich mir ein Glas Wasser einschenke, stelle ich fest, dass sie irgendwie gehetzt wirkt. Sie fährt sich immer wieder fahrig durchs Haar.

„Marissa?"

„Ja, Miss?" Sie blickt nur kurz auf, weil sie dann sofort wieder mit dem Lappen weiter wischt.

„Bei dir alles in Ordnung?", will ich stirnrunzelnd wissen, doch sie winkt sofort ab.

„Ja. Alles ist okay." Sie wischt sich über die Stirn. Ich sehe sie mit hochgezogener Augenbraue an, denn es ist offensichtlich, dass etwas nicht stimmt. Marissa seufzt. „Es ist nur, dass meine Schwester die Treppe runtergefallen ist und jetzt im Krankenhaus liegt.", rückt sie nun doch endlich damit raus.

„Dann geh zu ihr.", sage ich fassungslos und stelle das leere Glas auf den Tisch.

„Aber ihr Vater, Miss.", wendet sie ein.

„Geh zu deiner Schwester. Ich mache schon." Zweifelnd sieht Marissa mich an.

Sie schüttelt resolut den Kopf. „Nein, das kann ich nicht verlangen, Miss."

„Tust du nicht!", unterbreche ich sie. „Ich biete es dir an. Also los." Mit dem Kopf deute ich zur Tür. Erleichterung und Dankbarkeit breiten sich auf ihrem Gesicht aus. Sie bedankt sich noch ungefähr 100 Mal, bevor sie anschließend schnell aus dem Haus stürmt. Grinsend schüttele ich den Kopf über sie. Dann hole ich mir eine Schürze, binde diese um meine Hüfte und setze Marissas Tätigkeit fort.

***

„Charlotte!", donnert die Stimme meines Vaters durchs Haus. Da ich nicht gehört habe, wie die Türe geöffnet wurde, schrecke ich zusammen.

So schnell ich kann würge ich die Stimme von Amy Winehouse ab, indem ich die Musik abschalte. Den Lappen pfeffere ich achtlos in den Eimer voll Schaum, weswegen ein wenig Wasser überschwappt und auf dem Boden landet.

Not me. Please.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt