Kapitel 35

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POV ???


Schon wieder starrt er auf den grauen Haken seiner letzten Nachricht. Oder besser gesagt Nachrichten. Seit Monaten bekommt er auf keine einzige eine Antwort.

Am Anfang haben die Nachrichten noch blaue Häkchen, dann haben sie nur noch zwei graue Haken und letztendlich ist es seit zwei Monaten nur noch dieser eine graue Haken.

Trotzdem schreibt er jeden Tag eine Weitere.


Er kann einfach nicht loslassen. Es gab doch immer nur sie zwei, also warum ist er jetzt allein?

Er möchte auch loslassen können. Er möchte auch sein Leben weiterleben können.


Ihm schießen wie immer die selben Gedanken durch den Kopf. Sein Blick gleitet weg von dem Handy und stattdessen an die kahle Zimmerdecke. Er fühlt sich schwer und so unglaublich müde. Aber in diesem Gehirn rattert es Tag und Nacht.


Immer um die Fragen, bei wem bist du? Wie geht es dir? Was machst du? Bist du jetzt auch gerade wach?

Wie soll er denn beruhigt schlafen können, wenn er das nicht weiß? Wenn die ungeklärten Fragen ihn so plagen und er keine Möglichkeit bekommt sie zu beantworten.


Haben deine Träume sich erfüllt?

Bist du allein?

Gibt es jemand besonderen in deinem Leben? Jemand neues, der mich ersetzt und dir jetzt die Kraft gibt, die ich dir einst gegeben habe?


Stumme einzelne Tränen kullern über das Gesicht und werden von blaugefärbten Haar abgefangen. Eigentlich wundert er sich, denn er weint so oft, wie können da immer noch Tränen sein?

Seit einigen Monaten ging es schon so. Damals hat der Frühling angefangen, doch als seine zweite Hälfte ging hat er die Wärme mitgenommen.

Der Raum in dem er liegt ist unpersönlich. Es gibt ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch. Alles ist so weiß und steril. Der Duft von Desinfektionsmittel liegt in der Luft und Lärm von den Fluren dringt durch die Tür.


Das ist wieder ein Grund für ihn, um dankbar zu sein. Denn er hat ein Einzelzimmer und muss mit keinem seine Gedanken teilen. Zu seinem Glück gibt es sowieso wenig Möglichkeiten auf Freiheit, somit sind es lediglich seine Eltern und die Menschen in den schrecklich weißen Kitteln, die ein und die selben Fragen stellen.

Als Klopfen ertönt, rechnet er deshalb gar nicht mit jemand anderen. Schon gar nicht mit dem Jungen, der sich so vorsichtig in das Zimmer schleicht.

Schnell macht er die Augen zu und dreht sich weg von der Gestalt.


„Ich weiß, dass du wach bist."

Der sonst so ordentliche und gehorsame Junge hat sich blonde Strähnen in die sonst naturbraunen Haare gefärbt. Auch er hat sich verändert und sieht erwachsener aus im Verglich zu der Zeit als der Frühling weg ging.

Der Junge seufzt und setzt sich auf einen Stuhl neben das Bett.


„Es tut mir leid, dass ich nicht da war als du wieder aufgewacht bist. Ich war..." Der Braunhaarige hadert mit seinen Worten.

Doch ihm ist das egal, denn er hat sie schonmal gehört. Vor einer Zeit, kurz nachdem er wieder aufgewacht ist.

Der Junge auf dem Stuhl räuspert sich und lehnt sich zurück. Sein Blick geht starr in den Raum. Die folgende Stille hebt so laut hervor, wie die Hemmungen und Unehrlichkeit praktisch auf den Boden knallen und zerspringen.


„Du weißt wo ich war und du weißt wo ich immer wieder hinfahre. Du wolltest auch dort hin. Ich weiß es und du weißt es genauso, jeder der uns kennt weiß es. Es ist schlimm was auf dem Weg passiert ist, aber du kannst dich nicht mit der Ausrede krank zu sein hier einsperren."

Verräterisch zuckt er zusammen bei den Worten seines zuletzt gebliebenen Freundes.

„Wenn es nur eine Ausrede wäre, würde ich nicht hier liegen.", zischt er von seinem Bett aus. Immer noch mit geschlossenen Augen und liegt er mit den Kopf zur Wand gedreht.


Herablassend schnaubt der Braunhaarige und sieht zu dem Jungen im Bett.

„Ich kenne dich, du hättest schon längst mit der Physiotherapie anfangen können. Deine neurologischen Tests sind doch alle super ausgefallen. Deine Vitalwerte sind wunderbar, also was hindert dich daran aufzustehen und dich aus diesem selbst ernannten Gefängnis rauszubringen?"

Er schweigt. Diese Konfrontation würde ihm nur Kopfschmerzen machen und wenn er den Jungen auf dem Stuhl lange genug ignoriert, wird er bestimmt wieder gehen und nie wieder kommen.


„Natürlich, jetzt guckst du dir wieder die Verhaltensweisen anderer ab. Ich bitte dich, seit wann kommunizierst du nicht mehr. Ich wusste es ja schon immer, aber für die gesamte Außenwelt ist es ein Schock, dass ausgerechnet du der sensiblere bist. Dabei warst du doch immer der Sonnenschein. Jeder mag-"

„Dann nenn mir doch einen vernünftigen Grund warum ich aufstehen soll? Du kannst unsere Situationen nicht vergleichen, denn du hast keinen Unfall gehabt! Du lagst nicht im Koma und hast wertvolle Lebenszeit verpasst. Auch wenn es nichtmal eine ganze Woche war, sie ist weg und ich werde sie nicht wiederbekommen."


Verzweifelt beschimpft er den anderen. Er hat sich aufgerichtet und ihm zugewandt. Er zeigt dem Braunhaarigen sein verheultes Gesicht, was so in sich zusammengefallen wirkt. Tiefe Augenringe zieren die Augen des Blauhaarigen.

Der Junge auf dem Stuhl richtet sich auf und will seinen Freund umarmen. Doch seine Hände werde weggeschlagen.


„Ich will keine Umarmung oder sonstigen Trost. Nicht von dir. Ich werde aufstehen, keine Sorge. Denn wenn ich hier draußen bin, werde ich in den nächsten Flieger steigen und erneut meinen Weg auf die andere Seite Koreas einschlagen. Dann werde ich meine Antworten bekommen und endlich loslassen, so wie ihr es mir alle sagt."

Eigentlich ist er von sich selbst erschrocken. Noch nie hat er seine Freunde so angefaucht und normalerweise stößt er niemanden von sich weg.


Doch für ihn ist schon lange nichts mehr normal.


Kopfschüttelnd dreht der Braunhaarige sich weg und bewegt sich zu der Tür. Bevor er den Raum endgültig verlässt und dreht der Junge sich um und bedenkt ihn mit einem mitleidigen Blick.

„Du verstehst es einfach nicht."

Mit den Worten wird er wieder alleine gelassen und die Leere packt ihn erneut. Vielleicht hätte er doch kooperativer sein sollen. Dann wäre er jetzt nicht wieder allein. Die Gesellschaft fehlt ihm. Vielleicht sollte er zumindest den Teil mit dem nach Hause gehen umsetzen.

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Draw my love, little boy | ChanJinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt