Cassandras Vermächtnis

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Automatisch glitten die Blicke der Dumblesnape-Schüler in Richtung Knurren; ein großer, schwarzer, ziemlich struppig aussehender Hund stand vor ihnen und fletschte wütend die scharfen Zähne. „Verdammt, wo kommt der Köter her?", flüsterte Theo und knetete unruhig seine feuchten Hände. Er hatte das Gefühl, den Hund schon einmal gesehen zu haben.

Alles an dem Tier signalisierte Angriffsbereitschaft; die nach vorn gerichteten Ohren, die Anspannung seiner Muskulatur und die aufgestellten Nackenhaare zeigten den Schülern, dass jede noch so unbedachte, hektische Bewegung eine sofortige Attacke zur Folge hätte.

Gleichzeitig ertönte von der rechten Seite des Raumes ein leises Wimmern, das immer lauter wurde. Der Hund ließ sich davon nicht beunruhigen, noch immer richtete er seine Augen auf die acht Dumblesnapes.

„Das Bild", hauchte Theo mehr als er sprach, und deutete auf das Bild, dessen Rahmen er mit dem Finger vom Staub befreit hatte. Fragend schaute Hermine ihn an, sie verstand nicht recht, was das leere Portrait mit dem Hund vor ihnen zu tun haben sollte.

„Der Hund war vorher IM Bild", erklärte der Zauberer. „Irgendetwas hat ihn da raus geholt. Aber was? Wir haben doch außer einem „Alohomora" keinen einzigen Zauber gesprochen."

„Es muss an dem merkwürdigen roten Rauch liegen.", murmelte Hermine nachdenklich. „Überlegt doch, wie oft in Hogwarts schon der „Alohomora" gesprochen wurde. Demnach müssten alle Bilder leer sein." Prüfend drehte sie sich den anderen beiden Bildern zu, die noch in diesem Raum hingen, und zuckte erschrocken zusammen. Das Wimmern stammte von einer alten Frau mit langen grauen Haaren und rotgeweinten Augen, die ein flatterndes weißes Gewand trug.

„Eine... eine Todesfee", stammelte Ron und wartete jeden Moment darauf, dass die magische Kraft in der Stimme des Geisterwesens ihn töten würde.

Am meisten jedoch erzitterten die Schüler vor dem Wesen, das auf der linken Seite des Raumes gelassen und ruhig auf einem weißen Pferd saß und sie ohne jede Emotion anblickte.

Milli öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne ein Wort herauszubringen. Sie hatte für sich und Pansy in den vergangenen Jahren des öfteren die Karten gelegt; jedes Mal, wenn der Tod - denn niemand anderer war der unheimliche Reiter – in ihren Legesystemen aufgetaucht war, war Milli zusammengezuckt. Zwar war er der Wegbereiter für etwas Neues, doch bevor das beginnen konnte, musste man von altvertrauten und liebgewonnenen Dingen Abschied nehmen. Milli war sich sicher, dass weder sie noch ihre Kameraden diesen Raum lebend verlassen würden. Sie zitterte am ganzen Körper und war nicht mehr zu beruhigen.

Drei magische Wesen - Grimm, Todesfee und der Tod selbst - hatten die Dumblesnapes eingekesselt und die Schüler wussten nicht, wer der gefährlichere Gegner war.

Unaufhörlich strömten die Tränen aus den Augen der Fee und in schrecklichen, furchteinflössenden Tönen sang die Frau vom Ende des Lebens und den Opfern, die gebracht werden mussten, vom Schicksal der Welt und dem Triumph des Bösen.

Der Tod ließ seine leeren Augenhöhlen über die Zauberer, Milli und Hermine gleiten; nur Harry fand den Mut, den Blick zu erwidern. Zu oft war er dem Tod von der Schippe gesprungen, als dass ihn dieser noch erschrecken konnte.

Kalte, fleischlose Zähne grinsten den Dunkelhaarigen an. „So viel Tapferkeit", vernahm Harry die dünne, leblose Stimme des grausigen Reiters, „doch noch ist die Zeit nicht gekommen, an dem ich Dich fordern werde, Harry Potter. Der Tag ist nah, an dem Du zeigen musst, wie viel Du zu opfern bereit bist. Für heute magst Du Dir Dein Leben und das Deiner Freunde erkämpfen, doch steinig ist der Weg, der vor Euch liegt.

Von nun an gibt es kein Zurück mehr. Ihr wurdet auserwählt, den Schild zu vereinen. Findet ihn oder findet den Tod. Denn Entwicklungen haben begonnen, die Ihr nicht bemerkt habt; schneller als erwartet wird geschehen, was nie geschehen durfte. Schon bald, sehr bald werden wir uns wiedersehen und die Wahl, die Du zu treffen hast, wird über Deine Welt entscheiden."

Der Tod gab seinem Pferd die Sporen, der Schimmel mit den roten Augen stieg wiehernd auf und wandte sich um. Mit einem einzigen Satz verschwanden Ross und Reiter im Bild, die klagenden Töne der Todesfee verklangen und ließen nur Stille und Leere zurück.

Nur Harry hatte die Worte des Todes vernommen, keiner seiner Gefährten war dem Sensenmann jemals so nahe gekommen wie er. Das wusste der ehemalige Gryffindor zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch nicht.

Eine einzige Tarotkarte war am Boden liegen geblieben, als Fingerzeig dessen, was geschehen würde. Verdeckt lag sie da, bis Milli sie entdeckte und sich nach ihr bückte.

Genau diesen Moment nutzte der Grimm zum Angriff. Alle Muskeln am Körper des unheimlichen Hundes strafften sich, ehe er sich zähnefletschend und knurrend auf die Zauberer stürzte, die sich in zwei Reihen zwischen dem Monster und den Kisten Cassandras aufgestellt hatten. In der ersten Reihe standen Harry, Ron, Neville und Theo, die bereit waren, jeden Angriff des Grimms auf ihre Liebsten abzuwehren.

Und doch kam der erste Zauber aus der zweiten Reihe. Hermine hatte einen „Protego" ausgesprochen; der Schildzauber hielt genau eine Attacke lang stand, ehe er verpuffte. An dem unsichtbaren Magieschild hatte der Grimm sich fast den Kopf eingerannt, das kurzzeitige Hindernis machte ihn noch rasender. Seine Augen leuchteten rot und gefährlich, als ob sie von innen heraus brennen würden, Geifer tropfte aus seiner Schnauze und er fletschte die Zähne.

„Er wird uns erwischen und zerfletschen", wimmerte Milli, Tränen der Angst liefen über ihre Wangen und fielen von dort auf den Boden. „Es hieß doch, dass am Ende der Suche der Tod wartet. Wir werden alle sterben."

„Aber nicht heute.", wandte Harry ein. „Der Tod hat doch gesagt, dass wir uns erst später wiedersehen." Während seiner Erklärung konnte er die anderen nicht einmal ansehen, weil ein weiterer Angriff des Hundes seine ganze Aufmerksamkeit forderte. „Habt Ihr denn nicht gehört, was er sagte?"

„Nein, aber jetzt ist auch nicht die Zeit zum Erzählen", keuchte Draco und versuchte, den Grimm mit einem Stupor zu schocken. Der Fluch traf das Tier, doch anders als bei den übrigen magischen Wesen reagierte der Hund auf den Schockzauber nur mit einem zornigen Grollen und schnappte nach dem Blonden. Nur Blaise' schneller Reaktion, mit der er seinen besten Freund nach hinten zog, war es zu verdanken, dass Draco nicht ein Opfer der messerscharfen Zähne wurde. Die scharfen Hauer des Grimms zerfetzten gerade noch des Blonden Robe.

„Gegen das Biest sind Hagrids Kreaturen harmlose Schmusetiere", ächzte Ron. „Sogar das Monsterbuch war ein liebes Kerlchen verglichen mit dem da."

„Vielleicht sollten wir versuchen, es irgendwie zu beruhigen.", schlug Neville vor.

„Klasse Idee. Sollen wir ihm vielleicht was vorsingen?" Hermines Stimme triefte vor Sarkasmus.

„Testen wir es erst einmal im Guten", erklärte Ron, der die Singstimme Hermines zur Genüge kannte. Die Hexe hatte es in den Sommerferien geschafft, in Rekordzeit den gesamten Garten zu entgnomen, nur weil sie in einem unbeobachteten Moment einen Muggelhit gesungen hatte.

Ein vernichtender Blick aus den braunen Augen seiner Freundin ließ ihn rasch verstummen.

„Bbbbbrrraavvvess Hünddddcheeeennn", probierte Neville bibbernd sein Glück. „Ggggaaanzzz rrruuuuhhhigggg." Die Augen des Grimms glichen zwei Schlitzen, als er sich auf den Zauberer stürzte und eine böse aussehende Bisswunde an Nevilles Bein zurückließ.

Neville schrie vor Schmerz auf und fühlte, wie kalte Wut in ihm hochstieg. Wenn seine Tentacula so etwas machte, verpasste er ihr einen Klaps auf das bissige kleine Pflanzenmäulchen. Erbost tat er nun das Gleiche mit der Hundeschnauze.

Der Grimm ließ sich jedoch nicht davon einschüchtern und zog die Lefzen so weit hoch, dass man das angsteinflößende Gebiss des Tieres in voller Schönheit bewundern konnte. Der Laut, den der Todeshund dabei von sich gab, war kein Knurren mehr, es war ein Donnergrollen. Der nächste Biss würde wohl ein Gliedmaß kosten.

Weder Worte, noch Taten, noch Zauber würden das verhindern. Schließlich hatte Hermine die rettende Idee. Wenn sie schon nicht den Grimm selbst verzaubern konnte, dann würde sie zumindest dafür sorgen, dass das Untier sie und ihre Freunde nicht länger bedrohte.

Sie schwang den Zauberstab und ehe der Todeshund überhaupt realisierte, was vor sich ging, war er schon bis zum Bauch in den extra seinetwegen hingezauberten Sumpf eingesunken.

Nun kannte der rasende Hass des Tieres keine Grenzen mehr. Verbittert versuchte der Grimm, sich aus der Situation zu befreien, in die er aus heiterem Himmel heraus geraten war, doch je mehr er sich abkämpfte, desto tiefer sank er ein.

Der Hund wurde noch aggressiver, bellte, knurrte und schnappte nach allem, was sich um ihn herum bewegte, bis er schließlich bis zum Kopf im Sumpf feststeckte und leise vor sich hinjaulte.

Eine Welle des Mitleids schwappte in Harry hoch. Das Tier hatte schließlich nur seine Pflicht getan und den Schild davor bewahrt, entdeckt und geraubt zu werden. Im Sumpf zu ersticken, musste ein sehr grausamer Tod sein, selbst für ein Wesen, das es eigentlich nicht geben konnte, weil es nur ein Bild war.

Es kostete ihn allen Mut, zu dem Hund hinzutreten, um ihn aus der beklemmenden Situation zu retten.

Draco warnte ihn. „Vorsicht, tu es nicht, Harry! Wenn Du ihn rausziehst, greift er uns nur wieder an."

Harry schüttelte jedoch verneinend den Kopf und blickte in die funkelnden Tieraugen, in denen er jetzt nicht mehr Wut und Zorn, sondern pure Angst las.

„Okay, ich werde Dir helfen. Aber ich warne Dich. Solltest Du nur ein einziges Mal nach mir schnappen, sollte ich auch nur einmal Deine Zähne spüren, schmeiße ich Dich kopfüber zurück."

Ein Wink seines Zauberstabes verwandelte den Sumpf in ein weniger tiefes Schlammloch, aus dem er das Tier schließlich mit einem Ruck herausziehen konnte. Der vorher so wütende Grimm gab nur ein leises Winseln von sich und legte sich auf den Rücken, präsentierte Harry seine Kehle und zeigte ihm damit an, dass er den dunkelhaarigen Zauberer als Rudeloberhaupt akzeptierte.

Harry warf dem verschmutzen Tier einen strengen Blick zu. „Du wirst jetzt auf der Stelle in Dein Bild zurückgehen. Du hast genug Unheil angerichtet."

Der Dunkelhaarige deutete befehlend auf den leeren Rahmen. „Zurück mit Dir, marsch." Dankbar leckte der Hund Harrys Hand und sprang dann zurück in sein Portrait.

Jubelnd fielen die Dumblesnapes Harry um den Hals und drückten ihn, bis sich dieser schließlich beschwerte, keine Luft mehr zu bekommen.

„Das war verdammt knapp!", bemerkte Blaise, dem der Angstschweiß noch immer auf der Stirn stand.

„Ich weiß ja nicht, wie es Euch geht, aber schön langsam kann mir der Schild gestohlen bleiben!", machte Theo seinem Zorn Luft. „Seitdem wir das erste Stück gefunden haben, befinden wir uns andauernd in Gefahr. Ein wenig Abenteuer ist ja ganz nett, aber allmählich ist mein Bedarf gedeckt. Ich finde, wir sollten die Bruchstücke, die wir schon haben, gut verstecken und aus. Der Hund kann sie meinetwegen bewachen, der lässt niemanden vorbei."

Draco, Milli und Blaise nickten zustimmend.

Traurig schaute Harry sie an. „Das geht leider mehr. Jetzt, da wir wissen, an welchen Orten sich die restlichen Teile befinden, gibt es kein Zurück mehr, sagte der Tod. Entweder wir schaffen es, den Schild zu vereinen oder wir müssen sterben."

„Wir haben also keine Wahl", stellte Hermine fest. „Wir können ihm acht Seelen entreißen oder ihm unsere geben." Sie wartete Harrys zustimmendes Nicken ab und erklärte dann gespielt fröhlich. „Nun denn, dann sorgen wir mal dafür, dass der Sensenmann bald wieder mehr Platz hat."

Die Hexe ließ sich nicht anmerken, wie beunruhigt sie selbst über diese Situation war. Ähnlich wie im letzten Jahr, als Harry sich schließlich Voldemort stellen musste, entwickelte sich auch dieses Abenteuer zur Einbahnstraße. Es gab nur eine Richtung, in die die Dumblesnapeschüler gehen konnten. Am Ende würden sie entweder alles gewinnen oder alles verlieren.

Eines irritierte Hermine allerdings. Sie war der felsenfesten Überzeugung, dass der grimmige Hund den Schildteil beschützte und nun nichts mehr zwischen ihnen und dem Schatz stand, da der Hund überwunden war. Und doch flüsterte ihr eine innere Stimme zu, dass das nicht der Fall war. Aber selbst wenn ein Irrwicht in der Kiste wäre, drohte ihnen dadurch doch keine Gefahr.

Professor Lupin hatte ihnen in der 3. Klasse erklärt, dass ein Irrwicht nur gefährlich war, wenn man ihm allein begegnete; bei mehreren Personen wusste er nicht, in welcher Gestalt er auftreten sollte.

Die Hexe schwang ihren Zauberstab und öffnete auch die zweite Truhe, die Cassandra ihren Nachfahren hinterlassen hatte. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht, gespannt wartete sie darauf, wie lächerlich die Kombination aller Dumblesnape-Irrwichte aussah.

Wie sehr erschrak Hermine, als ein Schatten aus der Truhe glitt und sich vor ihr manifestierte. Er glich einem Dementor und war doch ganz anders. Lautlos glitt das Wesen durch die Luft und Hermine konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass vor ihr ein dunkler Umhang vorbeischwebte. Im Gegensatz zu den seelenaussaugenden Wächtern Askabans wirkte dieses Ding zweidimensional, fast flach. Und was noch erschreckender war, man sah keinen Kopf, so als gäbe es keinen.

Eine solche Kreatur hatten weder Hermine noch ihre Hausgefährten jemals zu Gesicht bekommen, sie wusste nicht, wie sie diesen unbekannten Schatten einschätzen sollten.
Eines jedoch konnte die Hexe mit Sicherheit sagen: Dass es besser war, sich davon fernzuhalten.

Langsam umkreiste das dunkle Wesen die Schüler, die sich eng aneinanderdrückten und nicht wussten, wie sie reagieren sollten. Ein unangenehmer Geruch zog in Hermines Nase, verkündete Tod, Verfall und Verwesung. Diese Kreatur, die das Bruchstück schützte, war gefährlich.

Besonders Neville, dessen Bein noch immer vom Biss des Grimms blutete, schien eine magische Anziehungskraft auf das Wesen zu haben. Noch griff es jedoch nicht an.

Bei Hermine schrillten alle Alarmglocken, als sie feststellte, dass das Ding immer engere Kreise um die Dumblesnape-Schüler zog. Vielleicht wäre es nicht einmal aufgefallen, gäbe es nicht die Tarotkarte, die der Tod hatte liegen lassen. Bei der ersten Umkreisung konnte man sie noch genau sehen, nun war sie bereits unter dem schwarzen Schatten verschwunden.

Keiner wusste, was sie von diesem unheimlichen Bewacher des Schildteiles halten sollten. Plötzlich vergrößerte sich das Wesen, so als ob es seine Arme ausbreiten würde. Zielsicher steuerte es Neville an und legte sich vollständig um den Körper des Schülers. Milli schrie entsetzt auf, als sie ein gurgelndes Geräusch des Zauberers hörte, dessen Atemluft aus seinen Lungen gepresst wurde.

Blaise versuchte, seinen Freund aus der tödlichen Umklammerung zu befreien, indem er sich auf diese merkwürdige Kreatur stürzte, doch das Wesen wollte sein Opfer nicht entlassen. Draco, Harry und Ron überlegten, mit welchem Fluch sie diesen Teufelsumhang, wie sie den Gegner in Gedanken nannten, dazu bringen könnten, von Neville abzulassen, doch sie sahen ein, dass sie dabei nur Neville erwischen würden.

Verzweifelt zerrte Theo an dem schwarzen Ding, das sich voll um Neville gelegt hatte und dadurch zum ersten Mal Konturen besaß, nämlich die des Zauberers.

„Tut doch was, er erstickt", keuchte Blaise und riss ein weiteres Mal an dem Wesen, es gelang ihm, wenigstens die schwarze Schicht von Nevilles Kopf zu schieben, der hilflos nach Luft schnappte. Ein öliger schwarzer Schleim bedeckte Teile seines Gesichts, an diesen Stellen bildeten sich Blasen und die Haut schien aufzuplatzen.

„Was um Merlins Willen ist das?", krächzte Theo, der feststellen musste, dass seine Hände ebenfalls durch die schwarze Substanz verätzt wurden.

Ron griff in seine Hosentasche und zog ein Taschenmesser hervor. Vielleicht konnten sie Neville herausschneiden, ihren Gegner Stück für Stück filetieren, bevor er dem ehemaligen Gryffindor schaden konnte.

Der Rothaarige setzte das Messer an, und in dem Moment, als er zustechen wollte, um einen Ausgangspunkt für den tödlichen Schnitt zu setzen, zog sich das Wesen noch enger um Neville zusammen.

Der gefangene Zauberer versuchte, seine Lunge mit einem Minimum an Sauerstoff zu füllen, während Blaise verzweifelt kämpfte, das Wesen von Nevilles Kopf fernzuhalten, um seinem Freund wenigstens die flache Atmung durch Mund und Nase zu ermöglichen.

Rons Messer prallte an der schwarzen Schicht ab, als ob sie aus Gummi wäre.

„Verdammt", fluchte der Rothaarige, „das darf einfach nicht wahr sein. Wir können doch nicht einfach dabei zusehen, wie Neville zu Tode gequetscht wird."

Hermine schüttelte den Kopf. Was half ihr alles Wissen, wenn sie hier versagte? Wenn sie wenigstens eine Idee hätte, auf welche Weise man dieses Wesen besiegen könnte, bevor Neville ihm zum Opfer fiel. Selbst ein Dementor, eine der schrecklichsten Kreaturen der magischen Welt, konnte schließlich vertrieben werden. Irgendwo musste doch auch dieses DING, das eine gewisse Ähnlichkeit zu den grässlichen Seelensaugern hatte, einen Schwachpunkt haben!

Im Nachhinein wusste die Hexe nicht mehr, warum sie das getan hatte. Einem unbestimmten Gefühl folgend, schloss sie die Augen und versuchte, eine frohe Erinnerung in sich hervorzurufen. In Gedanken war sie bei dem Tag, an dem sie mit Ron und Harry Freundschaft geschlossen hatte, lächelnd dachte sie an die Abenteuer zurück, die sie zu dritt gemeistert hatten.

„EXPECTO PATRONUM!", rief sie schließlich mit klarer Stimme und richtete ihren Zauberstab auf das Wesen, das sich mittlerweile trotz heftigen Zerrens von Blaise und Theo auf Nevilles Gesicht legte. Leuchtender Nebel stieg aus ihrem Zauberstab und verdichtete sich zu einem Otter. Geblendet wandten die Dumblesnape-Schüler ihre Augen ab, als der Zauber mit voller Wucht auf die schwarze Kreatur traf. Die dunkle Gestalt gab ein unheimliches Heulen von sich; schwarze Flüssigkeit tropfte auf den Boden und verätzte den Samt und die Pergamentrollen, die die Schüler in der ersten Kiste gefunden hatten. Innerhalb weniger Sekunden war das Wesen völlig ausgetrocknet und rieselte als feiner Staub zu Boden. Der Alptraum war zu Ende.

Neville sank zu Boden und schnappte gierig nach Luft. Blaise stürzte mit einem lauten Aufschrei zu seinem Freund und hielt diesen fest, bevor er gänzlich hinfallen konnte. Der befreite Zauberer zitterte am ganzen Leib. Er konnte nicht sprechen, zu tief war noch der Schockzustand, in dem er sich befand, und zu dringend wurde die Luft zum Atmen benötigt.

Auch Blaise war nicht in der Lage, ein vernünftiges Wort zu sagen. Schweigend saß er neben Neville, während sich eine einsame Träne den Weg über seine Wangen bahnte. Die übrigen Dumblesnape-Schüler standen wie betäubt im Raum und beobachteten die beiden Zauberer.

Schließlich brach Draco das Schweigen. Mit rauer Stimme krächzte er: „Was um Merlins Willen war DAS denn?"

„Keine Ahnung", gestand Theo und schielte auf seine mit Blasen und Pusteln übersäten Hände. „Ich weiß nur, dass es ziemlich wehtut."

„Woher wusstest Du, was Du tun musst?", erkundigte sich Ron staunend bei seiner Freundin.

„Nenn es Glück, wenn Du willst", antwortete Hermine knapp. „Oder einfach Intuition, ich weiß es nicht."

„Dann sollten wir uns jetzt schleunigst das neue Teil schnappen und zu Madam Pomfrey gehen. Ich glaube nicht, dass einer von uns DAS heilen kann.", erklärte Draco und deutete auf Neville, dessen Gesicht sich immer mehr entzündete.

„Und was machen wir mit der Arbeit hier? Schließlich sollten wir den Raum entrümpeln!", gab Milli zu bedenken.

„Wozu sind wir Zauberer? RATZEPUTZ!" Gelangweilt beobachtete der Blonde, wie sich Kiste um Kiste selbst entleerte und deren Inhalt in wenigen Sekunden in den Regalen verstaut war.

„Na, ob Trelawney damit einverstanden ist? Sie hat sich das Aufräumen bestimmt anders vorgestellt.", meinte Hermine.

Draco zuckte mit den Schultern. „Woher soll ICH wissen, was sie sich vorstellt? Ich kann nicht hellsehen."

„Sie auch nicht", murmelte Ron und schob die letzte leere Kiste zur Wand. Beiläufig griff er nach der am Boden liegenden Tarotkarte, drehte sie um und pfiff dann durch die Zähne. „Das sind ja mal gute Aussichten!", grinste der Rothaarige und reckte die Karte in die Luft.

Neugierig blickten die Schüler auf das dicke Papier in Rons Hand. „Die Liebenden", hieß die Karte und zeigte ein nacktes Pärchen, das von einem Engel oder göttlichen Wesen gesegnet wurde.

„Das ist wirklich großartig!", freute sich Draco. „Allerdings verstehe ich nicht so ganz, was „Die Liebenden" mit dem Schild zu tun haben. Heißt das, wir bekommen ihn, weil wir lieben können?"

Milli überlegte. „Nun, früher hieß die Karte nicht „Die Liebenden", sondern „Die Entscheidung", weil man durch das klare Bekenntnis zur Liebe alles Bisherige wie Elternhaus und Liebeleien zurücklässt. Möglicherweise hat diese Entscheidung nichts mit Liebe zu tun, sondern soll nur aus vollem Herzen ohne Hintertürchen getroffen werden. Aber positiv ist sie auf jeden Fall."

„Können wir das später klären?", fragte Blaise ungeduldig. „Neville muss zu Madam Pomfrey und auch Theo und ich brauchen Hilfe."

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Poppy Pomfrey war frustriert. Seit Beginn des Schuljahres lag sie Horace Slughorn in den Ohren, ihr für die Krankenstation einige Heiltränke zu brauen. Doch anstatt dieser Bitte nachzukommen, wie Snape es früher tat, vertröstete sie der Zaubertrankprofessor ein ums andere Mal, weil er angeblich so viel zu tun hatte, dass ihm kaum Freizeit blieb.

„Phlegmatischer Greis", schimpfte die Medi-Hexe vor sich hin. „Was gäbe ich dafür, wenn Severus wieder hier wäre. Eine Schande, wie wenig sich Horace um die Belange der Schüler kümmert. Es ist ihm völlig gleichgültig, wenn ich meine Tränke rationieren oder teuer in der Winkelgasse kaufen muss, nur weil er zu faul ist, neue zu brauen. Und dann auch noch zu behaupten, Pomona würde ihm die Zutaten nicht bringen. Pah, soll er sie doch selber holen. Ein wenig Bewegung würde ihm nicht schaden, er platzt sowieso bald aus allen Nähten."

Inmitten ihrer Schimpftirade wurde sie von den Dumblesnape-Schülern gestört, die alle in das Krankenzimmer stürmten.

„Mr. Potter, was ist denn jetzt wieder mit Ihnen?", erkundigte sie sich bei ihrem früheren Dauerpatienten.

Harry winkte jedoch ab. „Diesmal bin ich es nicht, der medizinische Hilfe braucht, sondern Neville, Blaise und Theo." Er deutete auf seine drei Hausgefährten, die mit schmerzverzerrten Gesichtern ein wenig hilflos dastanden.

„Ach du meine Güte", keuchte Poppy. „Wer hat Sie denn so zugerichtet?"

Sie sprach einen Diagnosezauber über Neville, stutzte kurz und schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist einfach nicht möglich", nuschelte sie. Bei Blaise und Theo kam sie jedoch zum selben Ergebnis.

„Mr. Malfoy, bitte laufen Sie zu Professor Slughorn und teilen Sie Ihrem Kollegen mit, dass ich dringend eine Phiole Murtlap-Essenz benötige."

Madam Pomfreys grimmiger Gesichtsausdruck veranlasste Draco, dieser Bitte sofort nachzukommen. Dankbar darüber, dass er der folgenden Befragung aus dem Weg gehen konnte, lief er in den Kerker, um dem Tränkelehrer über Poppys Aufforderung zu informieren.

Währenddessen wandte sich die Medi-Hexe an die anderen Schüler. „Und Sie erklären mir jetzt bitte, wie man in unseren Breitengraden mit einem Lethifold in Berührung kommt."

„Einem WAS?", fragte Hermine nach.

„Einem Lethifold, auch als "Lebendiges Leichentuch" bezeichnet. Er sieht aus wie ein schwarzer Umhang, ist äußerst gefährlich, um nicht zu sagen tödlich, und kommt eigentlich nur in tropischem Klima vor. Er pflegt sein Opfer einzuhüllen, bis es erstickt und verdaut es dann komplett mit seinem ätzenden Sekret, das Ihre Mitschüler an ihren Händen und im Gesicht haben. Was lernen Sie eigentlich im Unterricht?"

Während sie sprach, verarztete die Heilerin Nevilles Bisswunde und murmelte: „Ihre Pflanzen scheinen Sie wirklich zum Fressen gern zu haben, Mr. Longbottom. Vielleicht sollten Sie sich besser vorsehen."

Mit klarem Wasser wusch sie die Reste der Lethifold-Säure von Neville, Blaise und Theo und wartete auf Draco, der hoffentlich mehr Erfolg bei Slughorn hatte als sie selbst.

Doch auch der Blonde kehrte schließlich schimpfend zurück. „Es tut mir leid, Madam Pomfrey. Professor Slughorn meinte, er sei mit wichtigeren Dingen beschäftigt. Sie seien schließlich eine Hexe und könnten ebenso einen Heilzauber auf Wunden sprechen. - Allerdings hatte meine Mutter noch ein kleines Fläschchen übrig und meinte, dass Sie die Essenz wohl dringender bräuchten."

„Dieser... dieser bornierte Kretin!", fegte die Medi-Hexe los. „Das setzt doch allem die Krone auf. Unfassbar. Na warte, Horace, wenn Du das nächste Mal mit Magenschmerzen kommst, weil Du Dich überfressen hast...! - Ich schulde Ihrer Mutter einen Gefallen, Mr. Malfoy. Richten Sie Ihr meinen herzlichen Dank aus."

Vorsichtig betupfte Madam Pomfrey die schlimmen Verletzungen Nevilles mit der kostbaren Essenz und legte Blaise und Theo nasse Verbände mit Murtlap-Lösung auf. Dankbar und erleichtert seufzten die drei Zauberer auf, als das wohltuende Heilmittel seine Wirkung entfaltete.

„Und nun wüsste ich dennoch gerne, warum sich hier ein Lethifold herumtreibt, obwohl er dies nicht dürfte. Mr. Nott, ich warte auf eine Erklärung."

Theo geriet ins Stottern. „Es ist so... weil... weil... Das Ding hielt sich in einer Kiste in Trelawneys..."

„Professor Trelawney", warf Madam Pomfrey ein.

„Okay, Professor Trelawneys Rumpelkammer auf und als wir sie öffneten, kam uns das Ding entgegen und griff Neville an, weil der vorher noch von einer Fangzähnigen Geranie gebissen wurde."

„Man muss sofort die Direktorin und das Ministerium informieren!", rief die Medi-Hexe aus. „Ein Lethifold ist lebensgefährlich. Er überfällt seine Opfer im Schlaf, so dass sie sich nicht wehren können. Es gibt nur einen einzigen Zauber, der gegen einen solchen Angriff hilft, und das ist der Patronus-Zauber. Und wie viele Schüler Hogwarts beherrschen diesen Zauber?"

„Es ist nicht nötig, weil Hermine das sonderbare Wesen erledigt hat.", erklärte Ron mit stolzerfüllter Stimme. Seine kluge und hübsche Freundin hatte den einzig richtigen Zauber gefunden, mit dem man diese unheimliche Kreatur besiegen konnte.

„Woher wussten Sie, wie man einen Lethifold bekämpft, wenn Sie angeblich nicht wussten, um welches Wesen es sich handelt?", bohrte Poppy nach.

„Reine Intuition", antwortete Hermine und lächelte.


Als die Schüler nach ihrer Rückkehr im Gemeinschaftsraum vor Snapes Portrait standen, starrte dieser entsetzt auf Neville, der wie eine Mumie in die heilenden Tücher gehüllt war.

„Und Sie sind sich absolut sicher, dass Sie gegen den Grimm und einen Lethifold gekämpft haben...?", vergewisserte sich der tote Lehrer und schüttelte ungläubig den Kopf. Dass die Schüler diese Begegnungen überlebt hatten, grenzte an ein Wunder.

„Wo war Sibyll die ganze Zeit über?", fragte er nach. „Sie muss den Grimm doch gehört haben, wenn schon ihr inneres Auge nichts sah. Man sollte meinen, dass eine Hauslehrerin sich besser um die ihr anvertrauten Schüler kümmert." Langsam stellte er sich die Frage, ob die sonderbare Hexe mit ihrer neuen Rolle nicht etwas überfordert war. Snapes Meinung nach gab es ohnehin nicht viele Zauberer, die in der Lage waren, die Kombination von Gryffindors Mut und Slytherins List zu betreuen. Einer davon wäre er selbst gewesen. Der andere war ebenfalls ein Slytherin und hieß Lucius Malfoy.

Ihm hätte Snape die Schüler ohne weiteres anvertraut. Lucius war ein mächtiger Zauberer und hatte aus seinen Fehlern gelernt. Dass er den Mut gefunden hatte, seine Schuld offen einzugestehen, anstatt wie früher alles zu verleugnen, brachte ihm den Respekt der Jüngeren ein. ‚Ich werde mit Albus darüber reden. Vielleicht kann er bei Minerva ein gutes Wort für Lucius einlegen.', überlegte das Portrait.

Ein anderer Punkt bereitete Snape jedoch wesentlich mehr Kopfschmerzen. Je mehr Schildteile sie fanden, desto mehr wurde den Schülern abverlangt. Noch fehlten zwei Bruchstücke. Was würde als Nächstes kommen? Würden die acht am Ende noch gezwungen sein, jemanden zu töten?

„Finden Sie nicht auch, dass der Preis, den Sie für diesen Schild zahlen, ein wenig hoch ist?", erkundigte er sich.

Harry lachte trocken auf. „Selbst wenn, wir haben nun keine andere Wahl mehr. Mit Cassandras Vermächtnis haben wir den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt. Nun liegt es ganz allein an uns, ob die Sache gut ausgeht oder nicht."

Der Magische Schild - HP FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt