Kapitel 29

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Sechs lange Jahre habe ich ihn nicht gesehen. Das letzte Mal, als ich ihn sah, war es in den Nachrichten. Und jetzt? Jetzt steht er vor mir, noch ehe ich meinen Plan durchgehen konnte oder mir Gedanken darüber machen konnte, wie ich als Erstes zuschlage, um ihnen zu schaden. Er sieht verdammt gut aus, und diese Frisur steht ihm viel besser als die langen Haare. Er hat sich ein komisches Zeichen an den Hals tätowieren lassen, was soll das bitte für ein Zeichen sein?
"Was denn, Prinzessin, hast du mich nicht auch vermisst? Keine Sorge, ich erzähle niemandem, dass du zurück bist. Noch nicht", sagt er und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich habe mir diese Szenarien tausendmal durch den Kopf gehen lassen, 'was wäre, wenn', und nun? Jetzt stehe ich hier verkrampft, mein Herz rast und mein Puls pumpt. Doch ich bin nicht mehr schwach!
"Was willst du von mir, Ran, und woher wusstest du, dass ich hier sein werde, ausgerechnet heute?" sage ich mit klarer Stimme und versuche, meine Unsicherheit zu verbergen. Ran zeigt mit dem Finger einige Gräber weiter auf einen jungen Mann, von dem ich dachte, er sitze dort bei einem Verstorbenen und trauere um diesen. "Er hat all die Jahre hier gewartet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis du hierherkommen würdest. Ich will im Grunde genommen gar nichts von dir. Ich wollte dich sehen und wissen, was aus dir geworden ist. Und das, was ich sehe, gefällt mir", sagt er und lächelt, mit diesem Lächeln, das mir damals das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ran dreht sich um und geht. Wie? Das war's schon? In meinem Kopf wirbelt eine Frage nach der anderen, und ich kann nicht anders, als ihn zu fragen. "Willst du mir nicht wehtun? Mich nicht mitnehmen?" rufe ich ihm hinterher, aus Neugierde, was er vorhat.
"Nein, aber beim letzten nächsten Mal werde ich es. Dieses Treffen hier hat nie stattgefunden", murmelt er vor sich hin und verschwindet. Mein Blick verfolgt seinen Abgang, und ich meine, am Ausgang des Friedhofs noch jemanden zu sehen, ebenfalls mit lila Haaren, aber seine sind länger. Als ich meine Augen verenge, um die Person zu erkennen, die mich gerade aus der Ferne anblickt, erkenne ich Rindou. Sein genervter Blick hat ihn verraten, und er ist tatsächlich keine Brillenschlange mehr.
Als Ran verschwindet, bleibt ein Gefühl der Leere zurück, eine unerklärliche Mischung aus Erleichterung und Verwirrung. Allein stehe ich nun auf dem Friedhof, umgeben von den stillen Zeugen vergangener Leben. Die inzwischen kühle Abendluft umhüllt mich, während meine Gedanken wirbeln wie Blätter im Wind.
Ich bleibe an Ort und Stelle stehen, während die Dunkelheit langsam hereinbricht und die Gräber in Schatten taucht. Die Stille des Friedhofs umgibt mich wie ein schützender Mantel, doch gleichzeitig verstärkt sie mein Gefühl der Einsamkeit. Meine Gedanken wandern zurück zu vergangenen Zeiten, zu Erinnerungen, die längst verblasst sind, doch die mich dennoch nicht loslassen.
Ein leises Rascheln hinter mir lässt mich herumfahren, doch dort ist niemand. Nur die dunklen Bäume, die im sanften Wind rauschen, und die Silhouetten der Grabsteine, die sich gegen den abendlichen Himmel abzeichnen. Ein Schauer läuft mir erneut über den Rücken, und ich beschließe, den Friedhof zu verlassen.
Nach einer kurzen Suche finde ich schließlich ein Hotel, das mir sicher genug erscheint. Mit einem erleichterten Seufzer betrete ich die Lobby und wende mich an den Empfang. Die freundliche Empfangsdame begrüßt mich mit einem Lächeln, während ich nach einem Zimmer frage.
Nachdem ich eingecheckt habe, folge ich dem Hotelpersonal zu meinem Zimmer. Als ich die Tür hinter mir schließe, fällt eine Last von meinen Schultern, und ich kann endlich tief durchatmen. Das Zimmer ist einfach, aber gemütlich eingerichtet, und ich bin dankbar für den Ort der Ruhe und Sicherheit, den es mir bietet.
Ich lasse mich auf das Bett fallen und schließe für einen Moment die Augen, um mich zu sammeln und meine Gedanken zu ordnen. Trotz der Ereignisse der letzten Stunden fühle ich mich hier ein Stück weit geborgen, fern von den Gefahren der Außenwelt.
Plötzlich höre ich ein Klopfen an meiner Zimmertür. Mein Herz setzt einen Schlag aus, und ein stechender Schauer der Panik durchfährt mich. Was, wenn es Ran ist? Was, wenn er mir gefolgt ist?
Zögernd und mit angehaltenem Atem gehe ich zur Tür und öffne sie vorsichtig. Vor mir steht jedoch nur ein Mitarbeiter des Zimmerdienstes, mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen und einem Stapel frischer Handtücher in den Händen.
"Entschuldigen Sie die Störung", sagt er höflich. "Ich bringe nur die Handtücher für Ihr Zimmer."
Ich atme erleichtert aus und erwidere sein Lächeln. "Kein Problem, danke schön."
Er tritt ein und legt die Handtücher auf einem Tisch ab, bevor er sich zu mir umdreht. "Alles in Ordnung bei Ihnen?"
Ich nicke schnell. "Ja, alles bestens. Vielen Dank."
Er nickt verständnisvoll und macht sich bereit, das Zimmer wieder zu verlassen. Bevor er geht, dreht er sich jedoch noch einmal zu mir um. "Wenn Sie noch etwas brauchen oder Fragen haben, zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen. Ich bin rund um die Uhr hier, um zu helfen."
"Danke, das ist sehr nett von Ihnen", antworte ich aufrichtig.
Mit einem letzten Lächeln verlässt er das Zimmer, und ich schließe die Tür hinter ihm. Ein Gefühl der Erleichterung überkommt mich, als ich allein im Zimmer zurückbleibe. Es war nur der Zimmerdienst, kein Grund zur Panik.
Dennoch beschließe ich, wachsam zu bleiben und mich nicht von meinem Misstrauen überwältigen zu lassen. Denn auch wenn es nur der Zimmerdienst war, weiß ich, dass die Gefahr noch lange nicht gebannt ist und dass ich weiterhin auf der Hut sein muss.

Schicksal in Bonten: Zwischen Macht und VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt