5 - Paris 1994 - 10. Juni - Teil II

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Charles verfluchte sich für das, was er gerade gesagt hatte. Erik trug wirklich keine Schuld daran, dass Hank vielleicht mitbekommen hatte, dass er bei Erik war. Vor allem musste es nicht einmal irgendetwas bedeuten. Dann war er eben bei Erik. Dass sie hier zusammenlebten, musste nicht heißen, dass sie auch zusammen waren. Mehr wusste Hank nicht. Er konnte nur vermuten.

Er wollte Erik nach, aber er war natürlich viel schneller als Charles unterwegs.

Er versuchte Eriks Geist zu erreichen, während er sich in den Rollstuhl setzte, den er elektronisch bedienen konnte.

Charles nahm seine Haustürschlüssel und verließ die Wohnung in Richtung Fahrstuhl. Seine Finger an den Schläfen.

"Erik warte... Es tut mir leid."
Erik antwortete nicht, aber Charles spürte, dass er ihn hören konnte.

"Erik... Antworte mir. Es tut mir leid, was ich gesagt habe..."
Keine Reaktion.

"Komm schon Erik, es ist wirklich meine eigene Schuld, dass ich es Hank oder irgendwem anderes nicht gesagt habe. Du warst immer der, der mir beigebracht hat, dass man sich nicht dafür schämen muss, wer man ist."
Charles war mittlerweile auf dem Bürgersteig angekommen und versuchte ihm zu folgen. Er konnte noch spüren in welche Richtung Erik gelaufen war. Doch er reagierte weiterhin nicht.

"Vielleicht werde ich nie ganz verstehen, was du durchgemacht hast, aber bitte sperre mich nicht wieder aus. Sondern lass mich bitte teilhaben damit wir gemeinsam weiter machen können."
Keine Reaktion.

"ERIK!", Charles versuchte die stärkste Verbindung aufzubauen, die er zustande kriegen konnte.

Charles spürte ihn. Erik musste leicht zusammengezuckt sein. Aber er antwortete: "Schrei mich nicht an. Ich bin im Studio d'art de la guerre mondiale. Wenn man das, was du da gerade gemacht hast, schreien nennen kann. Das tat weh."

"Tschuldige. Aber danke.", antwortete Charles. Was auch immer Erik in dem Atelier über Kunst aus dem Zweiten Weltkrieg zu suchen hatte. Charles ahnte, dass er irgendwas vorhatte.

Das Atelier war drei Straßen entfernt. Charles bezahlte den Eintritt und sah sich nach Erik um.
Die Ausstellung war voller Motive, die schwer zu ertragen waren. Zerbombte Städte. Weinende Menschen. Flüchtende Menschen. Verzweifelte Menschen. All das Grauen, dass Charles in den 40er-Jahren nur in seinem Kopf gespürt hatte. So nah war der Krieg nie an sein Zuhause in Westchester gekommen. Dennoch war Charles sich ziemlich sicher, dass dieses massive, auf der ganzen Welt empfundene Leid Auslöser für seine Mutation war.

Endlich hatte er Erik gefunden. Er stand vor einer gläsernen Tischvitrine.
Charles stellte sich neben ihn.

"Da bist du ja. Hat ganz schön wehgetan. Du hast dir am Ende ganz schön Mühe gegeben. Ich hoffe, ich bin den Kopfschmerz gleich los.", sagte Erik, der mit verschränkten Armen das Exponat in der Vitrine ansah.

"Tut mir leid, Erik. Ich bin durchgedreht. Ich bin auch nicht perfekt.", antwortete Charles.

"Ich weiß.", erwiderte Erik.

"Warum sind wir hier. Was ist das?"

"Sieh's dir an. Dann weißt du's."

Charles begann, den englischsprachigen Begleittext zu lesen.

Dieses Skizzenheft wurde im Zeitraum von August 1943 bis Januar 1945 von Magnus Franke (*11.06.1926, Düsseldorf - Deutschland; † 23.02.1945, in der Nähe von Katowice - Polen) angefertigt. Es zeigt das Leben eines jungen Mannes, der mit siebzehn Jahren für den Wehrdienst eingezogen wurde, um für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen. Er wurde an der Ostfront eingesetzt und arbeitete dort im Dienst von Offizier Hans-Joachim Niedermark (*09.01.1903, Nienburg an der Weser - Deutschland; † 12.09.1988, unbekannt).
Das Skizzenheft zeigt seine zweifelhafte homosexuelle Beziehung mit Niedermark, dessen Aufdeckung zur Deportation und Inhaftierung Frankes ins KZ-Ausschwitz führte. Auch dort fertigte er noch lange Zeit Zeichnungen an. Nach der Befreiung am 27.01.1945 starb Magnus Franke auf der Flucht an seiner körperlichen Schwächung.

Charles seufzte. Er wusste, wer Magnus war. Das durfte er sich allerdings nicht anmerken lassen.

"Jetzt sieh' dir die letzte Zeichnung an. Los sieh hin, Charles.", forderte Erik Charles ruhig, aber bestimmt auf.

Die letzte Zeichnung bildete nur zwei Arme ab, die sich überkreuz an den Händen hielten. Die Arme trugen die tätowierten Nummern 214782 und 216779. Die erste gehörte Erik, die zweite so vermutete er, Magnus Franke.

So sehr wie er Erik vermutlich beim letzten Streit wehgetan hatte, konnte Charles wahrscheinlich nicht mit einem einfachen: "Tut mir leid.", wieder gut machen. Aber er konnte es auch nicht besser wissen. Er sagte daher lieber gar nichts, sondern ließ Erik reden.

"Selbst wenn du dich anpasst, Charles... Alles tust, was sie von dir verlangen, wie Magnus in den Krieg ziehst, für ein Regime, dass du hasst... Finden sie immer einen Grund, dir deine Würde zu nehmen. Ich werde dem Atelier heute etwas spenden. Das wollte ich dir eigentlich erzählen, bevor du wegen so einer Kleinigkeit durchgedreht bist."

Erik nahm einen Briefumschlag aus der Innentasche seines Sakkos und holte aus ihm ein rosa Dreieck aus Stoff hervor.

"Was ist das...", fragte Charles.

"Ein 'Rosa Winkel'. Magnus 'Rosa Winkel'. Sie kennzeichneten Häftlinge, die wegen homosexuellen Praktiken inhaftiert wurden. Es wurde an ihre Kleidung genäht. Das Schlimme an der Angelegenheit ist nur, dass Niedermark damit durchkam. Auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass er diese Beziehung erzwungen hat und nicht Magnus."

"Du kanntest ihn..." Aber hatte er ihn auch geliebt oder hatte nur Magnus Erik geliebt? War die Zeichnung nur eine Vorstellung von Magnus oder war es wirklich so passiert? Diese Fragen wollte Charles Erik gerade nicht stellen. Zu groß war die Sorge, dass er es nicht verarbeiten konnte.

"Er war als Junge mein bester Freund... Er war zwar vier Jahre älter als ich, aber unsere Eltern waren gute Freunde. Deshalb spielten wir dennoch zusammen. Seine Eltern führten das Buchgeschäft neben dem Geschäft meiner Familie. Aber irgendwas sagt mir, dass du das schon weißt, hm Charles?", Erik tippte mit einem Finger an seinen Kopf.

Charles schwieg.

"Ich will es gar nicht wissen, was du schon alles gesehen haben könntest. Mit einem Telepathen zusammen zu wohnen, könnte zu Missbrauch der Privatsphäre führen.", erwiderte Erik auf das Schweigen.

"Tut mir leid, Erik."

"Wir reden ein anderes Mal darüber. Ich suche jetzt Madame Jacquenetta Cantin. Sie ist die Leiterin des Ateliers, ich habe gleich einen Termin mit ihr."

Was im Laufe des Nachmittags passierte, lief in Charles Gehirn wie in einem Film ab. Er konnte nur von außen zuschauen und gehörte nicht dazu. Er konnte nichts dazu beitragen. Er konnte nur da sein.

Erik wurde von der Wissenschaftlerin Dr. Cantin in ihrem Büro begrüßt und interviewt. Es wurden Protokolle geführt. Tonaufnahmen und Fotos gemacht. Es wurde eine Veranstaltung abgehalten, in der Erik einige Worte sagte, die Charles nicht hörte. Einige Menschen im Publikum weinten. Alle applaudierten als Erik seine und Magnus Geschichte zusammengefasst hatte. Charles applaudierte.
Erik legte den Wimpel feierlich unter Blitzlichtgewitter der Presse in die Vitrine. Der Bürgermeister von Paris ließ sich mit Erik und Madame Cantin vor der Vitrine ablichten. Am Ende schüttelte der Bürgermeister auch Charles die Hand, der ihm erst auf den zweiten Blick als Charles Xavier identifizieren konnte. Doch er ging direkt wieder zu Erik, um mit ihm zu sprechen. Da wurde Charles eines klar.

Er war hier nicht der Mittelpunkt und das, was Erik und Magnus womöglich teilten, würde Charles nie erreichen.

Denn Erik Lehnsherr hatte keine Angst zu sein, wer er war und das zeigte er gerne der ganzen Welt. 

You are not alone: Even in your dreamsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt