15 - Cambridge 1953 - 17. Juli

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Charles wurde klar, dass Erik wirklich andere Schlüsse aus dem Gespräch im Fahrstuhl gezogen hatte. Er hatte es nicht als harmloses Gespräch betrachtet, sondern auf Indizien geachtet, warum er glaubte, hier nicht mehr sicher zu sein.

Diese Indizien bezogen sich auf die neugierige Vermieterin. Als würde sie bald Anzeige gegen ihn erstatten. Doch Charles war ihr schon häufiger begegnet und sie war einfach eine ganz gewöhnliche ältere Lady gewesen. Vielleicht verbreitete sie hin und wieder sehr viel Klatsch, wer mit wem zusammen war oder wer wahrscheinlich eine Affäre hatte. Manchmal hatte Charles an den Briefkästen im Hausflur ihrer Clique, bestehend aus älteren Damen, beim Tratschen zugehört. Einmal hatte sie ihn zu Besuch eingeladen. Sie hatte ihm Tee und Kekse angeboten. Es waren gute Kekse.

Er betrachtete das Chaos, dass Erik im Wohnzimmer angerichtet hatte. Auf Charles Schreibtisch lag eine Weltkarte, auf der Erik Linien, Kreuze, Kreise und Kommentare hinzugefügt hatte. Wie als hätte er schon sämtliche Länder und Fluchtrouten vorgeplant. Charles sämtliche Akten lagen wild herum. Einige Bücher waren aus den Regalen geworfen worden. Vielleicht hatte Erik dahinter seine Pässe oder irgendetwas anderes versteckt.

Erik selbst stand mittlerweile mitten im Zimmer und zeigte mit der flachen Hand auf das Gesims des Wohnzimmerschrankes. Dies tat er immer, wenn er irgendetwas metallisches bewegen wollte. Doch das schaffte er gerade nicht, denn das Armband stoppte ihn. Er seufzte und stellte sich wackelig auf den Ohrensessel, in dem Charles gerne beim Lesen saß. Er hätte meckern können, aber ließ es bleiben, bevor Erik herunterfiel. Er holte mit einem gut platzierten Griff eine Blechdose hervor. Von dessen Existenz hatte Charles nicht gewusst.

Er nahm sie mit zum Schreibtisch und legte dessen Inhalt neben die Weltkarte. Es waren keine Butterkekse darin, wie der Aufdruck vermuten ließ, sondern mindestens sechs verschiedene Währungen in Bar. Ein Gummiband hielt sie in sortierte Bündel. Wie viel Geld es war, war Charles nicht klar. Ihm war nie aufgefallen, dass Erik überall diese Dinge versteckt hatte. Vielleicht hatte er sie auch vor ihm versteckt.

Erik war mittlerweile ins Badezimmer weitergezogen.

Als er weg war, fiel Charles der braune Lederkoffer auf, den Erik seit Jahrzehnten mit sich herumschleppte. Schon als er ihn in den 60er-Jahren kennengelernt hatte, nahm er den Koffer überall mit hin. Er wusste immer, wo der Koffer gerade war. Heute stand er neben der Wohnungstür zum Aufbruch bereit. Darin befand sich das Wichtigste, was Erik besaß. Er hatte dessen Inhalt einmal vor Monaten recht nüchtern und emotional abgeklärt beschrieben. Dennoch hatte es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gedauert, bis Erik auf Charles Frage antwortete, was er da eigentlich aufbewahrte.

Das kleine Reiseschachspiel mit den "Eisenwaren Lehnsherr"-Metallfüßen beispielsweise. Auch die Kippa seines Vaters lag darin. Doch auch ein gewidmetes Gesangbuch seiner Mutter befand sich sorgfältig in Papier eingeschlagen und mit einer rosaroten Haarschleife verschnürt im Koffer. Die Haarschleife war von Eriks kleiner Schwester Klara. Daneben lag einsam neben einer Schmuckschachtel für Eheringe eine kleine Stoffpuppe, die seine Tochter Nina gehört hatte. Hätte er von allen, die er verloren hat, etwas aufgehoben, wäre der Koffer wahrscheinlich nicht groß genug.

Während er so auf den Koffer starrte, fehlten Charles die Worte. Er hatte schon viel über Erik herausgefunden. Es hatte sehr viel Schmerz empfunden, den Erik empfunden hatte. Er hatte ihn nachvollziehen können, aber wie damit umgehen, darin war Charles gerade wegen seiner eigenen Kindheitserfahrungen ungeübt. Bei ihm zuhause war es eher kälter zugegangen.

Erik lief im Flur hin und her und murmelte vor sich hin. Als ging er im Kopf durch, ob er an alles gedacht hatte. Charles war ihm gefolgt.

"Erik... Bitte hör' auf... Es ist alles in Ordnung...", versuchte Charles es. Doch er hörte nicht zu. Er hatte stattdessen seine Reisetasche in der Hand und war dabei, die bereitgelegte Kleidung einzuräumen. Hygieneartikel hatte er vermutlich gerade aus dem Badezimmer geholt. Er schmiss hektisch alle Pässe dazu.

You are not alone: Even in your dreamsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt