Kapitel 01 - Alva

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Zwei Wochen. 14 Tage. 336 Stunden. 20.160 Minuten. 1.209,00 Sekunden. Und ich zählte jede einzelne Sekunde akribisch mit. Solange dauerte es, bis das Schuljahr zu Ende war, die Ferien begannen und ich meinen Zufluchtsort für ganze zwei Monate verlieren würde. Dieser Ort war der einzige, an dem ich mich wirklich wohl fühlte. Hier konnte ich zumindest für einige Stunden am Tag abschalten, trotz des Unterrichts, der Prüfungen und des Lernens. Es war mein Ventil, um all die Geschehnisse zu Hause, die auf mich warteten, in die hinterste Ecke meiner Gedanken zu verdrängen und mich wie ein gewöhnliches 17-jähriges Mädchen fühlen zu lassen.
Ich schulterte meine schwarze Tasche und sofort hörte ich ein reißendes Geräusch.
Es würde nicht mehr lange dauern, bis meine Tasche auseinander fiel. Fast alle Nähte waren bereits aufgegangen, doch ich hatte kein Geld, um mir eine neue Tasche zu leisten. Das Geld, das ich verdiente, war für Nahrung und allgemeine Bedürfnisse bestimmt.
Mit einem letzten Blick in den Spiegel versuchte ich mich zu überzeugen, dass meine braunen Augen nicht erschöpft aussahen und die Augenringe, die ich mit Concealer zu kaschieren versuchte, wirklich nicht sichtbar waren. Ich war schon immer schlecht gewesen, wenn es um Schminke ging. Aus diesem Grund versuchte ich es meistens erst gar nicht.
Meine braunen Haare hingen platt über meinen Schultern. Ich sollte sie vielleicht einmal wieder schneiden. Langsam wurden sie mir zu lang.
Schnell griff ich nach meiner Brille auf dem kleinen Schreibtisch, setzte sie auf und atmete tief ein, bevor ich aus meinem Zimmer in den dunklen Flur trat. Es war kein Geräusch zu hören, nur mein Atem war vernehmbar, als ich direkt auf die Haustür zuging.
Mein Vater war nicht zu Hause, er hatte heute wieder eine lange Schicht, was mich beruhigte. Zumindest wusste ich genau, wo er war und dass er in Sicherheit war, bis seine Dienstzeit endete. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich lediglich anhand meines Bauchgefühls feststellen, ob mein Vater wohlauf war.

Die kleine Klingel über der Eingangstür ertönte, als ich in den kleinen Laden trat.
Mein zweiter Zufluchtsort.
Sofort erkannte ich Mike, meinen Chef, welcher mich anlächelte, sobald er mich sah. Immer wieder war ich fasziniert davon, wie jung er sich gehalten hatte, wenn man bedachte, dass er bereits auf die 50 zuging. Er war der beste Chef, den man sich vorstellen konnte.
„Mal wieder überpünktlich.", grinste er mich an, worauf ich auf die Uhr hinter ihm blickte. Es war typisch für mich, mehr als nur pünktlich zu kommen.
„Für meine Verhältnisse bin ich sogar zu spät.", witzelte ich mit, als ich meine Tasche neben den Tresen stellte und Mike anlächelte. „Also, womit darf ich anfangen?" Sofort gab er mir drei Stapel Blätter in die Hand.
„Das muss gebunden werden. Es wird heute noch abgeholt." Ich nickte und machte mich sogleich an die Arbeit.

„Alva?", rief mich Mike von seinem Büro aus, als ich gerade einem Kunden die kopierten Blätter überreichte und abkassierte. Höflich verabschiedete ich die Kundschaft, wünschte einen schönen Tag und machte mich gleich auf den Weg zu Mike. Ich trat die Treppe hinauf, ging durch die Bürotür, nur um Mike zu sehen, der irgendetwas in seinen Schubladen suchte.
„Ja?", machte ich mich bemerkbar, und sofort landete sein Blick auf mir.
„Du kannst gerne für heute Feierabend machen. Wir haben keine weiteren Aufträge und ich denke, ich schaffe die letzten Kunden auch alleine.", grinste er, als er mir einen Umschlag entgegenhielt. „Das ist übrigens das Trinkgeld, welches du heute bekommen hast. Vergiss es mir nicht wieder."
„Danke.", zögernd entnahm ich ihm den Umschlag und stopfte ihn in die Bauchtasche meines Hoodies. Es war nicht viel Trinkgeld, das war es nie, aber ich freute mich über jeden Penny mehr, den ich verdiente. „Dann sehen wir uns am Montag?"
„Bis Montag! Und genieße deinen Samstag noch!", verabschiedete sich Mike von mir.
Ich lächelte ihn an, wünschte ihm das Gleiche und nahm meine Tasche in die Hand, um sie vorsichtig zu schultern.
Die Sonne erwärmte sofort mein Gesicht, als ich aus dem Laden trat. Heute Morgen war es noch nicht so warm gewesen und ich bereute es augenblicklich nur einen Hoodie zu tragen. Glücklicherweise dauerte die Strecke nicht lange nach Hause. Sogleich machte ich mich zu Fuß auf den Weg. Einen Führerschein sowie ein Auto hatte ich leider nicht - es kostete zu viel. Selbst ein Fahrrad konnte ich mir nicht leisten, aber wieder einmal schwor ich mir, anzufangen, dafür zu sparen. Ich konnte nicht jede Strecke zu Fuß laufen.
Ich blieb für einen Moment stehen, als ich die schönste Stelle im ganzen Ort erreichte. Fast jeden Tag lief ich hier durch, und jedes Mal bewunderte ich aufs Neue diese Art von Kunst. Vor mir erstreckte sich eine hohe Wand, welche sich an der gesamten Straße entlang zog. Sie war voller Graffiti, egal in welcher Form. Die verschiedensten Kunstwerke waren hier zu entdecken und jedes Mal erkannte ich etwas Neues. Natürlich war das alles andere als legal, aber man scherte sich nicht darum. Diese Wand war im Grunde nur für diesen Zweck erbaut worden. Mich faszinierte diese Kreativität, dieses Talent und augenblicklich wünschte ich, ich könnte so etwas auch, jedoch lag meine Begabung eher darin, mich Hals über Kopf in Schulstoff zu stürzen und zu lernen - keine erwähnenswerte Begabung.
Ich wollte gerade weiterlaufen, als mir etwas ins Auge fiel, was ich noch nicht zuvor gesehen hatte. Es passte auch nicht wirklich zu den ganzen Comicfiguren und abstrakten Gestalten, welche auf der Wand auszumachen waren.
Ich ging ein paar Schritte zurück, um es besser erkennen zu können, als ich die fein geschwungenen Buchstaben las und sofort überzog mich eine Gänsehaut am kompletten Körper.

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