Kapitel 15 - Alva

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Ich hatte bereits gesehen, wie Silver zwei Typen mit einem Baseballschläger die Knochen gebrochen und zwei anderen mit einem Schlagring in die Bewusstlosigkeit geschickt hatte, aber dass er Shane eine komplette Treppe hinunter schmeißen würde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Silver war jemand, der schnell und intensiv wütend wurde, aber er hatte Shane beinahe in die Ewigkeit geschickt und das, weil er mich angefasst hatte.
Ich hatte bereits solch unfassbaren Taten von Silver miterlebt und gesehen, aber dennoch erschien mir das mit Shane am schlimmsten, was vielleicht daran lag, dass ich ihn persönlich kannte und er einer der wenigen Menschen war, mit denen ich in der Schule Zeit verbrachte und ihn zu meinen Bekannten zählte. 
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich mich daran zurück erinnerte, wie Shane mich berührt hatte, ohne, dass ich es gewollt hatte. Kurz nachdem ich aus dem Badezimmer in seinem Haus gegangen war, um im Vorgarten auf Silver zu warten, war Shane vor mir gestanden und hatte mich gegen die Wand gedrängt, da er nicht wollte, dass ich ging. Lieber sollte ich mit ihm zusammen meinen Geburtstag feiern - und das alleine.
Ich hatte den Alkohol direkt gerochen und mir war bewusst, dass Shane zu tief ins Glas geschaut hatte, aber dennoch hatte er mich bedrängt und mir meine Freiheit genommen - bis Silver ihn von mir gezogen hatte.
Noch nie war ich so glücklich gewesen, ihn in meiner Nähe zu wissen, bis er Shane ziemlich brutal die Treppe hinunter geschubst hatte.
Ich hätte schreiend wegrennen sollen, weg von Silver, aber ich konnte es nicht. Er hatte mich sozusagen gerettet. Und das bereits zum zweiten Mal.
Und nun saß ich hinter ihm auf seinem Motorrad, während er schnell durch die Straßen fuhr und meine Arme um seine Taille gewickelt waren. Er strahlte eine so angenehme Wärme aus, dass ich automatisch Gänsehaut bekam. Ich fühlte mich sicher, beschützt und wohl.
Nur wage konnte ich erkennen wo wir hinfuhren, schließlich hatte ich meine Brille nicht auf, aber spätestens, als ich das Warnschild des alten Autokinos erkannte, wusste ich, dass er mich zu meinem mittlerweile zweitliebsten Ort gebracht hatte. An erster Stelle stand im Allgemeinen Silver.
Er blieb vor dem großen Zaun stehen, stieg ab und half mir daraufhin von der Maschine. Seinen Helm hängte er wie immer über dem Lenkrad, während er mir sanft meine Brille auf sie Nase setzte. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, liefen mir still nebeneinander her, während wir uns auf den Weg zu dem alten und großen Gebäude machten.
Mitten im Weg nahm Silver meine Hand plötzlich in seine. Ein Brennen zog sich über meinen ganzen Körper, als er nach links lief und mich hinter sich her zog. Wo wollte er denn hin?
Bevor ich meine Frage laut aussprechen konnte, lief er um das Gebäude herum. Meine Augen versuchten in der Dunkelheit zu sehen, als ich einen alten Pick-up erkennen konnte, der Mitten auf dem Feld stand. Er war bereits komplett verrostet, die Reifen fehlten und der Lack war beinahe schon überall abgeblättert. Aber dieses Auto hatte eine Art Charme an sich, die mich lächeln ließ.
„Komm.", sprach Silver das erste Mal mit mir, seitdem wir hier waren und nickte in Richtung des Pick-ups. Ohne überhaupt nachzudenken folgte ich ihm.
Er öffnete die Ladefläche, packte mich an den Hüften und hob mich ohne Probleme hoch. Erst jetzt merkte ich, dass der harte Untergrund mit einer Decke überdeckt war, die sich unglaublich weich anfühlte.
„Bist du hier öfter?", fragte ich ihn, während meine Hand leicht über die Decke strich. Mit einem Blick in seine Richtung erkannte ich, wie er leicht nickte. „Wieso hast du mir das nicht schon vorher gezeigt?"
„Es hat sich bis jetzt nicht ergeben.", zuckte er mit seinen Schultern. „Warte kurz, ich bin gleich wieder da." Silver verschwand für ungefähr drei Minuten, bis er wieder vor mir stand und nun auch auf die Ladefläche des Pick-Ups stieg. Er setzte sich mir gegenüber in den Schneidersitz, da seine Beine zu lang waren, um sie ausstrecken zu können. Auch ich hatte die gleiche Sitzposition, weswegen unsere Knie sich leicht berührten. Ich biss mir auf die Unterlippe, als ich Silver in die Augen sah und das Blau so unfassbar stark strahlte, dass selbst die Dunkelheit ihre Schönheit nicht verstecken konnte.
Ich liebte diese Farbe.
„Wie geht es dir?", holte Silver mich plötzlich aus meiner Schwärmerei über seine Augen und sah mich besorgt an. Silver war besorgt?
„Gut", antwortete ich, wusste nicht, wieso er mir solch eine Frage stellte, als seine große Hand sich auf meinen Oberschenkel legte. Er beugte sich zu mir vor.
„Sei ehrlich, Alva. Wie gehts dir?"
„Ich sagte doch, es geht mir gut."
Er seufzte, lehnte sich wieder zurück und somit verschwand auch die Wärme seiner Hand. Er ließ das Thema fallen.
„Seit wann gehst du denn auf Partys?" Sein Grinsen war sarkastisch, genauso wie seine Frage, was mich dazu brachte, mit meinen Augen zu rollen.
„Es ist doch mal eine schöne Abwechslung unter vielen betrunkenen Teenagern den Abend zu verbringen.", sagte ich abfällig, was ein leises Lachen aus ihm lockte.
„Partys sind schon etwas Außergewöhnliches, habe ich recht?" Als ich meinen Kopf schief legte, zuckte er mit seinen Schultern. „Alle betrinken sich, tanzen zu schrecklicher Pop-Musik und machen mit anderen Menschen herum, nur um wenigstens ein paar Minuten aus ihrem Leben entfliehen zu können." Er spielte mit dem Ring an seinem Ringfinger, dessen grüner Smaragd förmlich leuchtete. „Es ist beinahe schon witzig, wie sie meinen, dadurch von ihren Problemen wegrennen zu können. Alkohol hilft vielleicht für den Moment alle Probleme zu vergessen, aber es ist nicht die Lösung."
Damit hatte er recht.
Sofort dachte ich an meinen Vater, der auch Alkohol als Lösung seiner Probleme ansah, aber es betäubte ihn nur so weit, dass er seinen Kummer vergessen konnte - so wie mich. Und sobald der Alkohol aus seinem Körper draußen war, trank er weiter, um auch ja keinen Moment der hässlichen Realität ins Gesicht sehen zu müssen.
„Es ist einfach nur traurig.", bemerkte ich, als Silver mich ansah. „Wie sehr muss man sich selbst verlieren, um in diesen Teufelskreis zu landen?", sprach ich meinen Gedanken aus und seufzte. „Ab welchen Moment gilt ein Mensch als nicht mehr zu retten?"
„Wenn er keine Hilfe mehr annimmt." Und wieder hatte er recht. Wenn man keine Hilfe wollte, hatte man bereits sich selbst und jeden anderen aufgegeben.
Tränen brannten in meinen Augen, als mir klar wurde, dass mein Vater mich aufgegeben hatte. Aber noch schlimmer war die Erkenntnis, dass er sich selbst aufgegeben hatte und ich nichts dagegen machen konnte.
„Na, was machst du denn so ein trauriges Gesicht, Mauerblümchen?" Silver rückte näher an mich, legte seine Hand unter mein Kinn und hob es leicht an, damit ich ihn wieder ansehen würde. „Schenk mir ein kleines Lächeln."
Er streichelte mir leicht über die Wange, bevor er seine nächsten Worte sprach. „Ein so schönes Mädchen sollte keinen Kummer in ihren Augen tragen."
Meine Wangen wurden warm, als seine Worte mich erreichten. Und das erste Mal, seitdem ich Silver kannte, spürte ich die Schmetterlinge in meinem Bauch, wie sie eine wilde Party feierten. Es war ein wohliges Gefühl.
Die Stimmung zwischen uns änderte sich komplett, die Dunkelheit verschlang mich regelrecht, als ich mich leicht nach vorne beugte, um Silver näher zu kommen. Wenn er bei mir war, merkte ich, dass ich mutig war. Mutiger, als ich es mir jemals hätte vorstellen können.
Unser Atmen vermischte sich ineinander, sein Duft umhüllte mich und ließ mich alles um uns herum vergessen. Es gab keinen alkoholsüchtigen Vater und keinen Shane. Nur Silver und mich.
Ein schriller Ton ließ uns auseinander schrecken. Ein genervtes Seufzen war von Silver zu hören und auch ich ließ einen enttäuschend Ton von mir.
Er nahm sein Smartphone aus seiner Hosentasche, blickte kurz auf den Display, worauf er mich ansah und ein leichtes Lächeln sein Gesicht verzog.
„Ich bin gleich wieder da. Warte auf mich." Und damit sprang er von der Ladefläche hinunter und verschwand kurz darauf in der Dunkelheit. Ich zog meine Augenbrauen zusammen, schob die Ärmel meines Pullovers über meine Hände, als der kalte Wind sich unter meine Kleidung mogelte. Es war ziemlich frisch für Anfang Juli.
Ich fing an mit meinem Bein zu zappeln, während ich auf Silver wartete, der nach ein paar Minuten immer noch nicht zurück gekommen war. Als ich gerade nach ihm rufen wollte, hörte ich schwere Schritte auf mich zu kommen und keine Sekunde später stand Silver vor dem Pick-Up, mit einem Grinsen in seinem Gesicht, das seine Augen leuchten ließ.
„Ich habe hier etwas für dich." Mit einer fließenden Bewegung sprang er wieder auf die Ladefläche und setzte sich mir gegenüber, worauf er mir eine Pappschachtel entgegenhielt. Verwirrt nahm ich sie ihm ab, als mein Blick auf das große Logo fiel, das auf der Schachtel abgebildet war. Es war das Logo der besten Pizzeria der Stadt. Verwundert sah ich ihn an. „Ich dachte mir, dass du vielleicht lieber deinen Geburtstag mit einer Pizza feiern möchtest, als auf einer Party." Mit geöffneten Mund starrte ich ihn an. „Außer natürlich, du magst keine Pizza, dann-" War Silver King gerade etwa nervös?
„Das ist perfekt.", flüsterte ich und wieder einmal kamen mir die Tränen. Aber nicht, weil ich traurig war, sondern weil ich glücklich war. Das erste Mal seit zehn Jahren fühlte ich so etwas wie Glück an meinem Geburtstag und das wegen Silver King, dem schwarzhaarigen Typen mit den blauen Augen, vor dem jeder in dieser Stadt eine furchtbare Angst hatte. „Das hat noch nie jemand für mich getan."
„Alles Gute zum Geburtstag, Mauerblümchen." Eine Träne bahnte sich ihren Weg über meine Wange, während der Duft der frischen Pizza uns umhüllte. Es war die schönste Geste, die mir je jemand gemacht hatte. „Hey, warum weinst du denn?"
„Ich-", fing ich an, jedoch unterbrach ich mich selbst, als ich versuchte die richtigen Worte zu finden.
„Du?" Und in diesem Moment war es mir scheißegal, wer vor mir saß. Es war mir egal, welche Konsequenzen ich davon tragen würde und was es aus mir uns Silver machen würde. Ich konnte keine Worte finden, die meine Dankbarkeit aussprechen konnten, aber dafür konnte ich es ihm zeigen.
Und mit diesem Gedanken ließ ich den Pizzakarton neben mich auf die Decke gleiten, sammelte meinen ganzen Mut, während Silver mich mit seinen blauen Augen ganz genau beobachtete.
So schnell konnte er gar nicht reagieren, hatte ich mich zu ihm vor gebeugt, meine Arme um seinen Hals gelegt und die letzten Zentimeter zwischen uns überwunden.
Und dann lagen meine Lippen auf seinen.

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