Kapitel 10 - Alva/Silver

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Alva

Sorgfältig legte ich die zusammengefaltete Wäsche in meinen Schrank, kontrollierte nochmals, ob alles farblich sortiert war und nickte mir selbst stolz zu. Ich war zufrieden mit dem Endergebnis.
Bereits seit vier Stunden war ich nun Zuhause. Wie erhofft, war mein Vater nicht da, obwohl ich stetig die Angst im Nacken spürte, dass er früher nach Hause kommen könnte. Wenn mein Vater jedoch seiner Routine treu blieb, würde er sich nach seiner Schicht in das nächstgelegene Casino verkriechen und sich zulaufen lassen, während er das Geld verprasste und verlor, welches wir zum Überleben brauchten.
Ich hasste mein Vater nicht. Das könnte ich nicht. Er war meine einzige Familie, die mir geblieben war, nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, als ich gerade einmal acht Jahre alt war - und das an meinem Geburtstag. Bis heute wusste keiner von uns, wieso sie uns so plötzlich verlassen hatte. Hatte sie jemanden neues kennengelernt? War sie einfach unglücklich gewesen? Liebte sie uns nicht mehr?
Als kleines Mädchen versuchte man herauszufinden, wieso die eigene Mutter einfach so verschwand, ohne jegliches Anzeichen, aber mittlerweile hatte ich mich damit abgefunden keine Antworten auf meine Fragen zu erhalten.
Ich musste ziemlich früh lernen, was es bedeutete, einen ganzen Haushalt zu schmeißen. Anfangs hatte mir mein Vater noch unter die Arme gegriffen, doch als seine
Depression schlimmer wurde, sowie sein Alkoholkonsum, war er zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen. Es grenzte bereits an ein Wunder, dass er seinen Beruf ausüben konnte.
Es machte mir nichts aus, vieles alleine zu machen, denn wenn ich etwas zu tun hatte, konnte ich mich nicht in meinen Gedanken verlieren. Denn das war das Schlimmste für mich. Ich wollte nicht über meine Mutter, meinen Vater und seine Probleme oder über den momentanen Zustand meines Lebens nachdenken. Ich musste mich auf die Sachen fixieren, die mir die Sicherheit gaben, eines Tages aus dieser Scheiße herauszukommen.
Musik drang leise aus meinem Smartphone, welches noch immer am Ladengerät hing. Es brauchte eine Ewigkeit zum Laden - würde der Akku doch nur so lange halten. Aber mein Smartphone war bereits fast vier Jahre alt, da konnte man nicht mehr viel von diesem alten Ding erwarten.
Auch ein neues Telefon war etwas, was ich mir nicht leisten konnte, weswegen ich mich mit dem Überlebenswille von diesem Smartphone wirklich zufrieden geben konnte.
Ich sah mich in meinem Zimmer um, von den kahlen grauen Wänden, bis zu meinem kleinen Kleiderschrank, der die wenigen Kleidungsstücke, die ich besaß, beinhaltete, zu dem mickrigen Schreibtisch an der linken Seite, direkt vor meinem Fenster und dann zu meinem Bett, welches das Farbigste im ganzen Zimmer war. Meine Bettwäsche hatte ich heute mit meinem Lieblingsüberzug bezogen.
Bordeaux-Rot.
Mit meinen Fingerspitzen strich ich über das weiche Material. Es war nicht so weich, wie die Decke von Silver, die er mir gestern Nacht gegeben hatte.
Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange, als meine Gedanken wieder zu Silver wanderten.
Niemals hätte ich erwartet, dass er so viel Platz in meinem Gehirn einnehmen würde. Es verwirrte mich, dass ich nun in meinem Zimmer stand, wie angewurzelt und über meine Bettwäsche streichelte, nur um seine weiche Decke mir hierher zu wünschen. Und das nicht wegen ihrer Weichheit. Fuck, nein, sondern wegen dem berauschenden Geruch, welchen sie mit sich trug.
Silvers Geruch.
Man konnte sagen, was man wollte, aber Silvers Geruch vernebelte mir regelrecht den Kopf. Vielleicht sollte ich ihn mal Fragen, welches Parfüm er benutzte.
Ich schüttelte mit meinem Kopf, als ich mir diese absurde Idee kam. Wie würde das denn bitte herüber kommen? Ich musste mich mal wirklich untersuchen lassen.
Mit meinem Lateinbuch setzte ich mich auf mein Bett, schlug die Seite auf, die ich benötigte und versuchte zu lernen, um blaue Augen aus meinen Gedanken zu streichen.

Der Schlafmangel zerrte an mir, als ich durch ein lautes Poltern aufwachte. Scheiße, ich war eingeschlafen.
Mein Lateinbuch lag geöffnet neben meinem Bett auf dem Boden. Anscheinend hatte ich es hinuntergeschmissen, als ich eingeschlafen war.
„Alva?" Ich zuckte zusammen, als ich die Stimme meines Vater wahrnahm. Ich hüpfte aus meinem Bett, lief auf mein Smartphone zu, um nachzusehen, wie viel Uhr wir hatten.
00:24 Uhr.
Er war für seine Verhältnisse ziemlich früh zuhause, was nur schlecht für mich war. Ich war noch immer nicht bereit ihm gegenüber zu stehen.
Mit einer Geschwindigkeit riss ich mein Telefon von Ladegerät, schlüpfte in meinen grauen Pullover, stopfte mein Telefon in die Bauchtasche, nachdem ich mir meine Brille auf die Nase gesetzt hatte und versteckte mich hinter meiner Zimmertür. Als ich mich gerade in die kleine Nische drückte, schwang meine Zimmertür auch schon auf.
Mein Vater trat mit schweren Schritten hinein und blieb augenblicklich stehen, als er bemerkte, dass ich nicht in meinem Zimmer war. Mein Licht brannte auf meinem
Nachttisch, aber ansonsten gab es kein Zeichen für meinen Vater, dass seine einzige Tochter zuhause war.
Ich nutzte den Moment seiner Verwirrung, trat aus der Nische heraus und huschte an ihm vorbei, mit schnellen aber dennoch leisen Schritten Richtung Haustüre. Mit einem Griff nahm ich meine Schlüssel aus der kleinen Schale, die auf der Kommode stand und schlüpfte aus der Haustüre heraus, welche ich hinter mir mit einem leisen Klick schloss.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich meine Luft angehalten hatte. Tief atmete ich ein.
Ich war der Begegnung mit meinem Vater nochmals entkommen, doch nun wusste ich nicht, wo ich hingehen könnte. Eine Parkbank war das Letzte, woran ich dachte, was meine Möglichkeiten um einiges einschränkte.
Ich brauchte einen Ort, an dem keine Seele sein würde und ich geschützt war vor äußeren Gefahren.
Und dann fiel es mir ein.
Das alte Autokino.
Der Weg war viel länger, als ich ihn Erinnerung hatte, was vielleicht daran lag, dass ich das letzte Mal mit Silver auf seinem Motorrad hierher gefahren war und ich gerade im Moment dorthin lief.
Meine Füße schmerzten bereits, als ich endlich das große Schild erkannte, dass vor unbefugten Zutritt warnte. Ich ignorierte den Druck auf meiner Brust, als mir klar wurde, dass ich wieder einmal etwas tun würde, was ganz und gar nicht legal war aber ich brauchte einen Platz, in dem ich die Nacht verbringen konnte, bis ich morgen zur Arbeit gehen  und am Abend meinem Vater begegnen musste. Ich konnte ihm nicht ewig aus dem Weg gehen.
Ich schaltete die Taschenlampen-App auf meinem Smartphone ein, hoffend, dass sie mich nicht meinen ganzen Akku kosten würde, als ich versuchte, nicht über die kleinen Steine zu stolpern. Leider gelang es mir nicht und ich knickte mit meinem Sprunggelenk um, blieb genau an der Eingangstür zum verlassenen Gebäude an einer kleinen Schraube hängen, die meine Hose zum Reißen brachte.
„Fuck, aua!", zischte ich, als ich wieder aufstand und meine Hose untersuchte. Ein riesiges Loch war an der Außenseite meines Oberschenkels zu erkennen. „Na, toll! Jetzt kann ich mir eine neue Hose kaufen. Fuck."
Verärgert raufte ich mir meine Haare. Das hatte mir nun auch noch gefehlt. Eigentlich wollte ich morgen mit diesen Klamotten zur Arbeit gehen, vorausgesetzt, sie wären nicht zu dreckig geworden aber das war jetzt sowieso egal.
Das Licht meines Smartphones erhellte nur träge meinen weiteren Weg, weiter hinein in das Gebäude, als ich versuchte mich umzusehen. Ich wollte mir sicher sein, dass nicht doch jemand hier war.
„Was machst du hier, Mauerblümchen?" Ein spitzer Schrei entfloh mir, als ich die Stimme genau hinter mir vernahm. Erschrocken drehte ich mich um, hielt meine Hand an meine Brust, spürte, wie mein Herz vor Schreck heftig gegen meine Rippen hämmerte.
„Scheiße, Silver! Du hast mich erschreckt, verdammt!", maulte ich laut und war versucht, ihm eine aufgrund des Schocks zu klatschen. Schnell jedoch gewann meine Vernunft, als mir bewusst wurde, wer hier vor mir stand und das ich Gewalt ihm gegenüber lieber vermeiden sollte, wenn ich noch ein paar Jährchen leben wollte.
„Ich werde meine Frage nicht nochmals wiederholen, Alva. Was machst du hier?" Unbeeindruckt sah er mich an. Mal wieder konnte man keine einzige Regung in seinem Gesicht sehen, wobei es sowieso schon schwer war, irgendwas in dieser Dunkelheit zu sehen.
„Du hast dich aber gerade wiederholt." Ich war nervös, scheiße nervös. Wie sollte ich Silver erklären was ich hier machte, ohne meinen betrunkenen Vater zu erwähnen?
„Willst du mich wirklich provozieren?" Seine Stimme war viel zu ruhig. Sie klang beinahe bedrohlich und daran merkte ich, dass Silver überhaupt keinen guten Tag hatte. Fast hätte ich mir Sorgen gemacht, wäre das nicht seine alltägliche Stimmung gewesen. „Beantworte meine Frage."
„Nein, ich will dich nicht provozieren."
„Alva." Scheiße und ich hatte gehofft, ich hätte ihn austricksen können.
„Ich habe doch deine Frage beantwortet!" Ich warf meine Arme nach oben, versuchte so seine eigentliche Frage zu umgehen, als er mit seinen Augen rollte. Ohne mich auch nur ein weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich von mir ab und verschwand in der Dunkelheit. Wieso war es nur so dunkel hier?
Seufzend hob ich mein Smartphone auf, welches ich vor Schreck fallen lassen hatte und untersuchte es auf Schädigungen. Glücklicherweise konnte ich keine erkennen und leuchtete mit dem Licht in die Richtung, in die Silver verschwunden war.
Ich wusste, er war noch hier. Ich konnte seine Anwesenheit förmlich spüren.
Mit langsamen und vorsichtigen Schritten folgte ich ihm, nur um ihn am anderen Ende des Gebäudes aufzufinden, wie er in einem alten Klappstuhl saß und auf seine Hände sah, während er mit einem Ring um seinen Finger spielte.
„Was machst du hier, Silver?", fragte ich, während ich mich neben ihm setzte, auf den anderen alten Klappstuhl, der gefährlich knackste, als würde er meinem Gewicht nicht standhalten können.
„Denkst du ich beantwortete dir diese Frage, wenn du es bei mir nicht getan hast?"
„Touché." Eine unangenehme Stille herrschte zwischen uns, weswegen ich unruhig in meinem Stuhl herumrutschte. Ich seufzte leise. „Ich wollte nicht zuhause sein. Deswegen bin ich hier. Ich brauchte einen ruhigen Ort."
Ich sah auf meine verschränkten Finger, konnte jedoch genau spüren, wie Silver mich ansah. „Manchmal erdrückt mich mein Zuhause förmlich." Nun hob ich meinen Blick. Mein Smartphone, welches ich zwischen uns auf den Boden gelegt hatte, erhellte kaum den Raum, aber genug, um Silvers Gesicht zu erkennen. Er sah mich wissend an.
„Das kenne ich." War das Einzige, was er sagte und mit dieser Aussage beantwortete er mir automatisch meine Frage, was er hier machte. Er wollte nicht Zuhause sein.
Nun saßen wir Zwei hier, jeder hing seinen eigenen Gedanken hinterher, während die Zeit verging. Und auch wenn es Silver fucking King war, der gerade neben mir saß, hatte ich zu ersten Mal in meinem Leben das Gefühl innere Ruhe gefunden zu haben.
Und ich wollte diese Ruhe nie wieder missen müssen.
In der uns umhüllenden Stille nutzte ich den Moment und sah mich um, soweit ich natürlich etwas sehen konnte. Meine Unterlippe fand ihren Weg zwischen meine Zähne, als mir der Smiley, den ich letztens gesprayt hatte, ins Auge fiel.
So schlecht sah er eigentlich gar nicht aus.
Für meine Verhältnisse war das tatsächlich künstlerisch.
Müde stand ich auf, nahm mein Smartphone in meine Hand, ignorierte Silver, der mich ansah, während ich auf die Wand zu lief und mit meinem kleinen Licht darauf schien. Das griechische A grinste mich förmlich an und erinnerte mich an meine illegale Karriere, die ich gestartet hatte - Dank Silver.
Erst hatte er eine Tasche geklaut, die ich jetzt mit mir herumtrug, dann hatte er mich zum Sprayen gebracht, worauf ich von meinem Vater erwischt worden war und dann hatte ich auch noch auf eine Wand gekritzelt und meinem Lieblingskünstler geantwortet.
Und auch wenn man meinen sollte, dass Silver kein guter Umgang für mich war, hatte ich mich noch nie in meinem Leben so umbeschwert und frei gefühlt wie in den Momenten, als ich einfach mal auf das Gesetz geschissen hatte.
Ich dachte brav sein würde spaß machen, aber verflucht, Scheiße bauen war für mich ein Paradies. Ich fühlte mich lebendig.
„Du hattest wirklich recht, Mauerblümchen." Silver stand neben mir, seine Augen waren genauso auf das Smiley gerichtet, während ich meine Augenbrauen zusammen zog und ihn fragend ansah. „Du hast wirklich keine künstlerische Ader in dir." Er sah mich an und ich konnte schwören Belustigung in seinen blauen Augen zu erkennen. „Dieser Smiley ist abgrundtief hässlich."
Ein dunkles Lachen erfüllte den Raum, als ich beleidigt die Luft aus meinen Lungen presste und den Drang nicht kontrollieren konnte, ihm gegen die Brust zu schlagen. „Das ist ja wohl eine Frechheit!"
„Sieh es so, Mauerblümchen. Wenigstens ist die Künstlerin etwas Schönes anzuschauen."

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