Kapitel 08 - Alva

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Wie versteinert stand ich noch immer an der Wand des Badezimmers. Meine Atmung hatte sich noch nicht verändert, auch wenn Silver bereits vor mehreren Minuten gegangen war und diese Wärme mit sich genommen hatte, die er jedes Mal ausstrahlte.
Meine Gedanken hingen noch immer an der vorgefallenen Szene, erinnerte mich an sein regloses Gesicht, als er sich ohne jegliche Probleme oder Schmerzen die Verletzungen desinfiziert hatte. Wie konnte er da so ruhig bleiben?
Ich verzog mein Gesicht, als ich mich allein daran erinnerte, wie es sich angefühlt hatte, als Silver meine Wunde an meiner Wange versorgt hatte.
Meine Haut brannte dort, wo er mich berührt hatte, so sanft, als wäre ich etwas Kostbares. Als hätte er Angst gehabt, mich zu zerstören.
Noch nie in meinem Leben hatte ich solch eine Intensität gespürt. Und damit meinte ich nicht nur das Kribbeln meiner Haut, sondern auch das Ziehen in meinem Unterleib, als Silver mir so nahe stand, mich gegen die Wand gepresst hatte, seine Brust gegen meine..
Vor zwei Wochen kannte ich Silver nur als eine Art Gruselgeschichte, die man sich gerne am Lagerfeuer erzählte und hatte ihn nur ab und zu von Weitem in der Schule sichten können.
Und nun war ich bei ihm Zuhause, stand regungslos in seinem Badezimmer, nachdem ich mit ihm zusammen illegal auf einem abgeschlossenen Gelände gesprayt hatte und von der Polizei, besser gesagt meinem Vater, erwischt worden war und Silver mich von zwei ekligen Männern gerettet hatte, die meinen Abend wahrscheinlich komplett zum schlimmsten aller Zeiten gemacht hätten.
Wie konnte das alles so schnell passieren?
Das Klingeln meines Smartphones riss mich mit einem Ruck aus meinen Gedanken, brachte mich wieder in die Realität und weg von blauen Augen, die mich in ihre Dunkelheit zogen. War der Akku von meinem Smartphone nicht leer gewesen?
Schnell sah ich auf mein Display. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ich den Namen meines Vaters lesen konnte. Er hatte bereits des Öfteren versucht mich zu erreichen, aber ich war so abgelenkt gewesen, dass ich es nicht bemerkt hatte.
Ich seufzte, lehne seinen Anruf ab und blickte auf die Uhr. 01:13. Bereits so spät?
Als ich das dachte, überkam mich plötzliche Müdigkeit. Meine Knochen fühlten sich schwer an. Ich hatte Mühe, meine Augen offen zu halten. Es war wirklich ein anstrengender und aufregender Tag gewesen. Ich würde mich morgen um die Problematik mit meinem Vater kümmern.
Mit leisen Schritten ging ich aus dem Badezimmer und wieder ins Wohnzimmer, mit der Hoffnung Silver dort anzutreffen, aber er war nirgends zu sehen. Ich entschied mich dagegen, ihn zu suchen, denn es war sein Zuhause und ich wollte nicht ohne sein Einverständnis hier herumirren und in deiner Privatsphäre schnüffeln.
Unsicher setzte ich mich auf das Sofa, zog meine Beine an mich heran und umarmte diese, nachdem ich mein Smartphone und meine Brille auf den kleinen Beistelltisch gelegt hatte.
Das Wohnzimmer hatte eine angenehme Raumtemperatur, aber dennoch war mir so unglaublich kalt, dass es sich sogar so anfühlte, als würden meine Knochen erzittern.
Nach einer Weile traute ich mich, mich hinzulegen und zu hoffen, dass Silver nicht sauer auf mich sein würde, dass ich mich einfach so auf seinem Sofa breit gemacht hatte, aber wo sollte ich sonst schlafen?
In seinem Schlafzimmer.. ich verdrängte die leise Stimme in meinem Kopf und schüttelte unbemerkt meinen Kopf. Als ob Silver mich in seinem Bett schlafen lassen würde. Es war schon ein Wunder, dass ich überhaupt hier war, in seinem Zuhause.
Wahrscheinlich wusste keiner wo genau Silver wohnte. Umso mehr faszinierte es mich, dass er zuließ, dass ich es wusste.

Mitten in der Nacht wurde ich wach. Die Dunkelheit umhüllte mich wie einen Schleier, als ich versuchte mich zu orientieren. Es dauerte nicht lange, bis mir einfiel, wo genau ich war. Bei Silver Zuhause, zusammengerollt auf seinem Sofa, eingekuschelt in eine warme Decke.
Moment.. Als ich eingeschlafen war, hatte ich noch keine Decke gehabt...
Der Stoff fühlte sich unglaublich weich in meiner Hand an. Ich vernahm diesen Geruch von Schwierigkeiten und Gefahr, den Silver hatte, nur das er nicht in diesem Raum war. Es war die Decke.
Hatte er mir seine Decke gegeben?
Mein Herz hämmerte regelrecht gegen meine Brust, als mir klar wurde, dass Silver hier gewesen war, während ich geschlafen hatte und mir eine Decke übergelegt hatte.
Mich sollte es nicht wundern, schließlich war es sein Wohnzimmer, sein Haus und ich war die Fremde in diesen vier Wänden.
Dennoch fühlte ich mich auf eine Art und Weise wohl hier. Ich fühlte mich sicher und das hatte ich schon lange nicht mehr. Ich hatte zwar mein eigenes Zuhause, mein eigenes Zimmer, aber mit dem Wissen, dass mein Vater betrunken umher wanderte, fühlte ich mich noch nie komplett sicher.
Allein wegen seinem Wutausbruch gestern, fühlte ich keinerlei Sicherheit mehr, wenn ich an mein Zuhause dachte.
Seufzend nahm ich mein Smartphone in meine Hand, um zu sehen, wie viel Uhr es war. Ich hatte nur vier Stunden geschlafen und diese kurze Nacht nagte auch an meinen Nerven, aber mir war bewusst, an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Zu viel ging mir durch den Kopf, als das ich einen Moment Ruhe finden würde.
Ich schreckte auf, als ich einen lauten Motor vor dem Haus wahrnehmen konnte. War Silver weg gewesen?
Keine Sekunde später öffnete sich seine Haustür. Nur für einen kurzen Moment konnte ich Silver erkennen, als das Licht des Vorgartens durch die Tür schien, aber sobald Silver die Haustür wieder schloss, erlosch auch somit das Licht im Flur. Wo war er denn gewesen?
Als könnte er mich sehen und fühlen, dass ich wach war, trat er ins Wohnzimmer.
„Habe ich dich geweckt?", fragte er, in seiner Stimme schwang ein Unterton mit, den ich nicht zuordnen konnte.
Verzweifelt kniff ich meine Augen zusammen, versuchte irgendwas in dieser Dunkelheit zu erkennen, als Silver plötzlich das kleine Tischlicht neben dem Sofa anschaltete. Erschrocken blinzelte ich ein paar Mal, um meine Augen an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen.
„Nein, ich war schon wach.", murmelte ich, schlug die Decke weg und setzte mich auf, als ich Silver ansah, der mal wieder komplett in Schwarz bekleidet war. Ich wettete um eine meiner Nieren, dass sein ganzer Kleiderschrank nur in Schwarz gedrängt war.
Er zog sich seine Kapuze vom Kopf, nahm die SnapBack ab und fuhr sich kurz durch seine tiefschwarzen Haare, worauf sogleich vereinzelte Strähnen auf seine Stirn fielen. Ich biss mir auf meine Unterlippe, als er sich mit einem lauten Seufzer neben mich setzte. Er sah müde aus.
„Du hast anscheinend keine Sekunde Schlaf gefunden, habe ich recht?"
„Schlaf wird überbewertet.", antwortete er nur und blickte gerade aus, zum Fernseher, der ausgeschaltet war.
„Wo warst du? Ich habe gar nicht bemerkt, wie du gegangen bist.", versuchte ich Informationen von ihm zu erhalten, was ihn dazu brachte, mich anzusehen. Seine blauen Augen waren ein starker Kontrast zu seinen schwarzen Haaren, aber verdammt, es war ein wunderschöner Kontrast. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch eine Augenfarbe gesehen.
„Wie denn auch, wenn du damit beschäftigt warst, mich und alle Tiere in unmittelbarer Nähe mit deinem Geschnarche wach zu halten."
„Hey! Das stimmt gar nicht!", maulte ich und so schnell konnte ich gar nicht über meine nächste Tat nachdenken, schlug ihm schon leicht gegen die Schulter. „Ich schnarche nicht.", murmelte ich leise und senkte beschämt meinen Blick.
„Woher willst du das denn wissen? Schließlich hast du geschlafen.", täuschte ich mich oder klang Silver amüsiert?
„Du bist so ein-"
„Arschloch?"
„Ja, Arschloch! Du hast es erfasst." Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen, als ich ihn wieder ansah und seine Augen noch immer auf mich gerichtet waren. Sofort stieg die Hitze in mir und das nicht nur in meinen Wangen, als er mich so intensiv ansah, als würde sein Blick sich in meine Haut brennen.
„Du bist aber nicht sehr kreativ."
„Ich habe dir gesagt, dass Kreativität nicht zu meinen Stärken gehört.", erinnerte ich ihn an den Moment, als er wollte, dass ich etwas an die Wand des verlassenen Autokinos sprayte. Er nickte zustimmend. „Außerdem bin ich gerade erst aufgewacht. Erzähl du mir lieber, was du Mitten in der Nacht draußen getrieben hast.", versuchte ich es nochmals, weswegen sich seine Mundwinkel leicht hoben.
Wüsste ich nicht, dass ich komplett wach war und das alles wirklich passierte, hätte ich gedacht, dass ich träumte. So viele Gefühle von Silver innerhalb ein paar Minuten? Ich musste verrückt werden.
„Was denkst du denn, was ich getrieben habe?", stellte er mir eine Gegenfrage, was mich dazu brachte, mit meinen Augen zu rollen. „Der einzige Moment, indem du deine Augen zum Himmel rollen darfst, ist, wenn du meinem Schwanz lutscht, Mauerblümchen."
„Was?", brachte ich hervor und sah ihn erschrocken an, als er nur mit seinen Schultern zuckte.
„Ich wollte es nur gesagt haben." Nur gesagt haben? Um Gottes Willen, ich war sprachlos. Solche Worte hatte noch nie jemand zu mir gesagt.
Ich presste meine Beine zusammen, versuchte die Hitze zu ignorieren, während er mich noch immer mit seinen blauen Augen beobachtete. Hoffentlich bemerkte er nicht, was sein Dasein mit mir anstellte. Es war doch Silver King. Der junge Mann, von dem man sich so weit wie nur möglich fern halten sollte! Doch stattdessen saß ich neben ihm, während er solche Sachen zu mir sagte und ich wäre eine Lügnerin, wenn ich sagen würde, dass ich es nicht anziehend fand.
„Du bist ziemlich direkt.", sprach ich, mein Mund war staubtrocken.
„Direktheit spart einem viel Zeit.", antwortete er nur und griff augenblicklich in die Bauchtasche seines Hoodies, um das mir bekannte schwarze Büchlein raus zu holen.
Ich senkte meinen Blick, während Silver die Kappe seines Stiftes mit seinen Zähnen in einer schnellen Bewegung abzog, seinen Kopf leicht schräg hielt, eine Seite des Buches öffnete und innerhalb einer halben Minute etwas hinein geschrieben hatte. Erst als ich hörte, wie er das Büchlein schloss, hob ich wieder meinen Kopf, um ihn anzusehen.
Er hatte seine Augen geschlossen und seinen Kopf in den Nacken gelegt. Er sah so unglaublich friedlich aus, als wäre er nicht dazu im Stande Menschen mit einem Baseballschläger die Knochen zu brechen, oder zwei Typen mit einem Schlagring in die Bewusstlosigkeit zu verprügeln.
Seine Atmung ging regelmäßig. Ich hätte schwören können, dass er schlief, wenn nicht dieses leichte Grinsen auf seinem Gesicht auftauchen würde, als wüsste er, dass ich ihn betrachtete. Zum Glück sah er nicht, wie ich mit meinen Augen rollte, als ich seine Aussage vernahm.
„Gefällt dir der Anblick, Mauerblümchen?"
„Er ist ganz in Ordnung.", sprach ich gleichgültig und zuckte mit meinen Schultern, als er seine Augen wieder aufschlug und mich das zweite Mal heute Nacht amüsiert ansah. „Du bist müde."
„Du auch."
„Vielleicht sollten wir dann versuchen nochmal zu schlafen." Ich hatte schon lange aufgegeben, herauszufinden, wo er heute Nacht gewesen war. Einerseits, weil ich wusste, er würde es mir nicht sagen und andererseits, weil ich es nicht provozieren wollte, dass er erneute Andeutungen machte, die mich komplett aus dem Konzept brachten.
„Sag mir, Mauerblümchen-" Er setzte sich auf, verschränkte seine Arme vor seiner Brust und legte wieder den Kopf schief. „Wie hast du eigentlich die Polizei dazu gebracht, dich einfach so gehen zu lassen?"
„Wieso? Willst du etwas von mir lernen?", witzelte ich.
„Der Unterschied zwischen uns ist, dass ich mich nicht erwischen lasse, Alva. Du hättest einfach abhauen können und ich wäre dir gefolgt, nachdem ich mir sicher gegangen wäre, dass du in Sicherheit wärst." Mal wieder hämmerte mein Herz gegen meine Brust.
„Warum denkst du denn, hat mich die Polizei gehen lassen? Schau mich doch an, ich bin zuckersüß."
Ich klimperte übertrieben mit meinen Wimpern, wollte seinen intensiven Blick entgehen, als er ein Stück näher an mich rückte. Diese Hitze..
„Zuckersüß würde ich jetzt nicht sagen." Beleidigt schmollte ich ihn an, als seine Worte mich erreichten. Doch statt mich auszulachen, betrachtete er mein Gesicht mit seinen blauen Augen, als versuchte er sich jedes einzelne Detail zu merken. „Du bist eher niedlich, wie ein kleines Kitten."
„Kitten? Wirklich?"
„Ich mag Kitten.", sagte er und grinste wissend, als wieder einmal die Röte meiner Wangen mich verriet. Hatte er mir gerade ein Kompliment gemacht?
Silver stand mit einer eleganten Bewegung auf, nahm seine SnapBack vom Sofa und setzte sie sich wieder auf. „Wir sehen uns später. Schlaf noch ein bisschen." Und damit verschwand er aus dem Wohnzimmer und ließ mich allein.
Als ob jetzt noch an Schlaf zu denken war.

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