Kapitel 09 - Alva/Silver

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Alva

„Guten Morgen, Mike.", begrüßte ich meinen Chef, als ich durch die Ladentür ging und die kleine Klingel ertönte. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er mich erkannte.
„Alva! Was machst du denn hier?", sprach Mike, während ich zu ihm hinter den Tresen trat und ihm seine Stofftasche wiedergab.
„Arbeiten? Meine Schicht fängt doch gleich an." Kurz sah ich auf die Uhr, welche ihm Vorderraum hing, die bestätigte, dass es kurz vor acht Uhr war.
„Heute nicht. Hast du denn nicht meine Nachricht erhalten?", fragte Mike. Ich zog meine Augenbrauen zusammen, versuchte mich zu erinnern, eine Textnachricht von ihm bekommen zu haben, aber dann fiel mir ein, dass mein Smartphone heute früh den Geist aufgegeben hatte, nachdem ich keine Möglichkeit hatte, es zu laden.
„Mein Akku ist leer."
„Du kannst auf jeden Fall wieder nach Hause gehen, Alva. Ich bin heute nur hier um die Buchführung zu machen." Er deutete auf den Computer, in dem er das Programm geöffnet hatte.
„Mara und ich müssen heute noch zur Floristin, wegen den Blumen für die Hochzeit und so wie Mara halt ist, wird das wahrscheinlich den ganzen Tag dauern.", lachte Mike, aber gleichzeitig sprach er mit solch einer Liebe über seine Verlobte, dass mein Herz jedes einzelne Mal anschwoll. „Deswegen muss ich den Laden für heute schließen."
„Oh, ach so. Das wusste ich nicht.", lachte ich nervös und fuhr mir durch meine Haare. „Dann wünsche ich dir und Mara viel Spaß. Richte ihr schöne Grüße von mir aus, ja?"
„Mache ich!" Und damit verabschiedete ich mich wieder von Mike. Die warme Sommerluft umschmeichelte mein Gesicht, während ich versuchte, herauszufinden, was ich mit meiner Zeit nun anfangen sollte.
Silver hatte mich vor einer halben Stunde hier abgesetzt, nachdem er mich wieder einmal gezwungen hatte, auf sein Motorrad zu steigen. Ich hatte versucht, mich zu wehren, doch als er mir gedroht hatte, mir meine Füße zu brechen, hatte ich dann doch eingelenkt. Ich wollte noch ein bisschen Laufen können.
Nach kurzer Überlegung entschied ich mich dazu, nach Hause zu laufen. Mein Vater sollte eigentlich in der Arbeit sein, also konnte ich in Ruhe meine Aufgaben erledigen und dann vielleicht verschwinden, bevor er wieder nach Hause kommen würde. Ich wollte ihm noch nicht gegenüber stehen. Zu sehr schmerzte mich die Erinnerung, wie der letzte Streit zwischen uns verlaufen war.
Wie immer blieb ich an der mir allzu bekannten großen Wand stehen. Ich vermied es, zur Parkbank an der gegenüberliegenden Straßenseite zu schauen, als ich mir das Graffiti ansah und wie immer versuchte, die Geschichte dahinter zu verstehen.
Seufzend wünschte ich mir, meine Gefühle und Gedanken so ausdrücken zu können aber ich war ein Mensch ohne jeglichen Talente und irgendwann müsste ich das akzeptieren.
Schon seit Jahren hatte sich kaum etwas an dieser Wand verändert und erst als der Künstler mit dem griechischen S aufgetaucht war, erwachte die Wand wieder zum Leben. Auch wenn es nur tiefgründige Sprüche waren. Meist sagten sie mehr aus, als jedes andere abstrakte Bild auf dieser Wand.

„Let it hurt until it can't hurt anymore."

Ich hatte ein neues Zitat entdeckt.
Freude überkam mich, auch wenn dieses Zitat mal wieder unglaublich traurig war. Ich mochte es, dass der Verfasser mit dem griechischen S noch weiterhin seine Gedanken und Gefühle teilte. War das seine Art und Weise zu verarbeiten? Ich wusste nicht, was mich im nächsten Moment überkam, als ich einen schwarzen Stift aus meiner Tasche kramte, mich auf der Straße umsah, um sicher zu gehen, das mich niemand sehen würde und mit dem Stift an der Wand ansetzte und anfing zu schreiben.

Silver

8 Stunden, 16 Minuten und 24 Sekunden lang war es her, als ich Alva das letzte Mal gesehen hatte. Und auch wenn es nur knapp einen halben Tag entsprach, fühlte es sich an, als wäre es eine Ewigkeit. Meine Gedanken hingen an ihren braunen Augen, ihre Art und Weise wie sie lächelte oder wie sie versuchte die Röte ihrer Wangen zu verstecken, wenn ich etwas sagte, was sie überraschte.
Nie konnte ich ihre nächste Reaktion und Tat hervorsehen, so auch diese nicht, die sich direkt vor mir befand.
Es war bereits spätabends, als ich an der großen Mauer in der Nähe des Parks ankam. Meine Kawasaki stand am Straßenrand, mein Helm hing über dem Lenker, als ich meine Tasche schulterte und versuchte, eine freie Stelle zu finden. Jedoch hatte ich nicht erwartet, dass ein Zitat unter meinem stehen würde, welches nicht von mir verfasst wurde.
„I hid my deepest feeling so well I forgot where I placed them."
Es war um einiges kleiner geschrieben, als mein Zitat, aber dennoch fiel es mir direkt ins Auge. Genauso wie das kleine griechische A, mit dem das Zitat gekennzeichnet wurde.
Alva.
Ich konnte mich genau erinnern, wie sie das griechische A benutzt hatte, als sie diesen schrecklich hässlichen Smiley an die Wand im alten Autokino gesprayt hatte.
Mein neuer Lieblingskünstler hat mich dazu inspiriert., hatte sie an diesem Tag zu mir gesagt. Wenn sie nur wüsste, dass ich ihr neuer Lieblingskünstler war.
Niemand durfte wissen, dass ich diese Zitate schrieb. Es war die einzige Möglichkeit für mich, irgendwie meinen Kopf freizubekommen und manchmal wusste ich gar nicht genau, wieso ich solche Sachen schrieb. Es war mein Geheimnis, meine Zuflucht und es sollte meins bleiben.
Mit meinen Fingerspitzen strich ich sanft über die geschwungenen Buchstaben, die Alva mir hinterlassen hatte. Waren das ihr wahren Gedanken? Hatte sie den Bezug zu ihren Gefühlen genauso verloren wie ich?
Mein kleines schwarzes Buch wog plötzlich mehrere Kilo in meiner Tasche, als ich danach griff und die letzte Seite aufschlug, welche komplett leer war. Für einen kurzen Moment hielt ich in meiner Bewegung inne, als ich tief einatmete, meinen Stift aus der Jackentasche zog und die Kappe mit meinen Zähnen abzog. Es dauerte keine Minute und schon hatte ich das Zitat von Alva in meinem Buch verewigt. Sie würde es niemals erfahren.
Ich zog meine Kapuze tiefer in mein Gesicht, griff in meinen Rucksack und holte meine schwarze Spraydose heraus, schüttelte sie und schloss kurz meine Augen, öffnete sie wieder und fing an, eine Antwort an Alva zu verfassen. Ich war gespannt, wann sie diese sehen würde.

„Say what you feel, it's not being rude, it's being real."

Ich saß auf den Stufen vor meiner Haustür, ließ den silbernen Ring mit dem Smaragd zwischen meine Finger gleiten, während die Dunkelheit und die Stille mich umgaben. Ich fragte mich, was Alva gerade machte.
War sie zu Hause? An dem Ort, zu dem sie gestern ums Verrecken nicht hin wollte? Würde ich sie wieder auf einer Parkbank auffinden mit Typen, die mit Sicherheit keine guten Sachen vorhatten? Oder war sie in Sicherheit bei einer Freundin?
Alva hatte keine wirklichen Freunde, das wusste ich. Es brauchte nur ein wenig Zeit, in der man sich mit ihr befassen konnte, um zu wissen, dass sie nicht auf der Suche nach Freundschaften war.
Mein kleines Mauerblümchen wollte für sich alleine leben, aber Scheiße, das konnte sie sowas von vergessen.
Nicht, nachdem ich sie gestern bei mir Zuhause hatte schlafen lassen. Nicht, nachdem sie mich mit ihren brauen Augen angeschaut hatte, als wäre ich die Sicherheit, die sie brauchte.
Mein Griff schloss sich um den kleinen Ring in meiner Hand. Der Stein drückte sich in meine Handinnenfläche, aber ich spürte keinen Schmerz. Ich spürte absolut gar nichts. Ich wusste, es war nicht normal, aber es konnte mich nicht wenigster interessieren.
Schon seit meiner Kindheit war es so gewesen. Meine Eltern hatten mich zu zig Ärzten geschleppt, die keine genaue Diagnose stellen konnten. Irgendwann hatten meine Eltern es aufgegeben und sich endlich daran gewöhnt, dass ich nicht weinte, als ich mir beim Ballspielen das Knie aufgeschürft oder mir die Schulter ausgekugelt hatte, als ich von höchsten Baum gefallen war.
Schmerz war eine Empfindung, die mir nicht bekannt war, egal ob physisch oder psychisch. Erst nach vielen Jahren hatte ein Arzt eine Diagnose gestellt.
Kongenitale Analgesie. Der größte Bullshit überhaupt.
Ich rollte abwertend mit meinen Augen, versuchend die Erinnerungen an meine Kindheit in die letzte Ecke meines Gehirns zu drängen. Es funktionierte.
Stattdessen dachte ich weiter über Alva nach.
Ich zog meine Augenbrauen zusammen. Die Erinnerung an gestern Abend kam wieder zurück. Die Erinnerung, wie Alva gestern Nacht geweint hatte, als ich sie vor diesen Hurensöhnen beschützt hatte.
Sie sah so zerbrechlich aus, so unschuldig, als könnte sie niemanden Leid antun, während ich Blut an meinen Händen hatte und das von so vielen Menschen, die es verdient hatten.
In diesem Moment, als Alva vor mir Schwäche gezeigt hatte, hatte ich das erste Mal seit langer Zeit etwas empfunden. Ich musste und ich wollte sie beschützen, wie es kein anderer konnte.
Das erste Mal in meinem Leben fühlte sich die Stille um mich herum drückend an, es störte mich, dass kein einziger Geräusch zu hören war, während ich hier draußen saß und meinen Gedanken hinterher hing.
Ich nahm meine Schlüssel in meine rechte Hand, ergriff mein Motorradhelm mit meiner linken, stand auf und lief auf meine Kawasaki zu.
Todesmaschine.
Mit einem Schwung saß ich auf meinem wertvollsten Besitz, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn herum, bis der Motor schnurrte, willig seine ganze Kraft zu demonstrieren.
Es brauchte nicht viel Gas und schon fuhr ich mit hoher Geschwindigkeit den kompletten Weg durch den Wald hindurch, den ich blind kannte. Ich wohnte hier schon lange genug, um zu wissen, an welcher Stelle welcher Stein lag.
Bevor ich mein Ziel kannte, stand ich bereits vor der Absperrung des alten Autokinos und machte den Motor meines Motorrads aus. Ich schwang mich hinunter. Meinen Helm setzte ich ab, hing ihn über den Lenker und fuhr mir kurz durch meine Haare, nur um die Kapuze meines schwarzen Hoodies aufzusetzen.
Manche würden sagen, es wäre dumm, einen Tag, nachdem die Polizei hier gewesen war, wieder hier auf zu tauchen, aber es war mir Scheißegal. Ich würde mich nicht erwischen lassen.
Die Polizei hatte mich bis heute nicht erwischen können. Sie wussten nicht einmal, wer ich genau war. Nur durch Zufall hatte ich mitbekommen, dass ich wohl der Teufel war, den sie versuchten zu fassen.
Leicht musste ich grinsen, als es mir wieder einfiel. Sollten sie mich Teufel nennen, denn es war besser für jeden einzelnen, mich wie den Teufel zu fürchten. Ich würde sie alle durch das Höllenfeuer schicken.
Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, die in dem Gebäude herrschte. Ich hatte gehofft, die Ruhe hier zu finden, die ich verzweifelt suchte, aber selbst an diesem Ort war es mir verwehrt worden. Ich seufzte, setzte mich auf einen der alten Klappstühle, die am anderen Ende des Gebäudes standen und sah mich um, bis mein Blick auf dieses hässliche Smiley fiel und ich mein Gesicht verzog.
Sie hatte wirklich keine künstlerische Ader in sich. Dieses Smiley konnte Menschen regelrecht zum Kotzen bringen.
„Fuck, aua!", hörte ich jemanden zischen. Sofort landete mein Blick auf die Eingangstür des Gebäudes, als diese sich öffnete und Licht hindurch schien. Ich jedoch blieb ruhig sitzen, denn die Polizei konnte es wohl nicht sein, und selbst wenn, es interessierte mich nicht. Ich war sowieso schon verdammt angepisst, weil ich meine Ruhe nicht finden konnte und zusätzlich dazu störte diese eine Person nun auch  noch meine Einsamkeit.
„Na, toll! Jetzt kann ich mir eine neue Hose kaufen. Fuck.", maulte wieder jemand. Wie ein Blitzschlag erfüllte mich dieses eine bestimmte Gefühl, welches ich immer hatte, wenn sie in meiner Nähe war.
Alva, mein Mauerblümchen.
Was, zum Teufel, machte sie hier?

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