Ich stand da und konnte mich nicht bewegen, als würde ich von einer unsichtbaren Macht an Ort und Stelle festgehalten. Als Tethys mich aufgesucht und mir mitgeteilt hatte, das Meister Harpokrates mich sehen wollte, wollte ich zuerst nicht mit. Solch eine Angst hatte ich von seiner Reaktion wegen meiner Taten. Aber ich wollte mit ihm noch reden, mich bei ihm bedanken, aber auch entschuldigen und jetzt hatte ich die Gelegenheit dazu. Also, warum tat ich es nicht? Wieso konnte ich nicht zu ihm gehen? Das aufmunternde Nicken von Joshua war mir nicht entgangen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Die Angst hielt mich fest.
„Dion, was ist los? Du hast jetzt die Gelegenheit, mit Meister Harpokrates zu sprechen, er wartet", sprach mich meine kleine Schwester an.
„Ich kann nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, wer weiß, was Meister Harpokrates von mir denkt, wegen ..."
„Bestimmt nicht das, was du glaubst, Bruder. Aber wenn du nicht zu ihm gehst und ihm nicht fragst, wirst du es nie erfahren", unterbrach mich Tethys und schubste mich leicht an.
Ich atmete tief durch. „Du hast recht."
Ich machte einen Schritt nach den anderen, bis ich vor Meister Harpokrates stand. Er hatte sich seinem Schreibtisch wieder zugewandt. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch kein Laut kam über meine Lippen.
>>Verdammt Dion, reiß dich zusammen. Vater hat dir vergeben, und das, obwohl du ihm getötet hast. Meister Harpokrates wird dich genauso verstehen<<, wies ich mich im Gedanken selbst zurecht.
Im nächsten Augenblick drehte sich Meister Harpokrates zu mir um, ich senkte den Kopf, ehe ich ihn wieder ansah.
„Meister Harpokrates. Ich ... bitte um Vergebung, dass ich meinen Studien damals den Rücken gekehrt habe. Eure Lesungen waren der Schlüssel zu einer Welt, die anders war als alles, was das behütete Leben im Palast mich gelehrt hatte. Ihr habt mir meinen Weg gewiesen. Ich werde euch ewig danken."
Ich verneigte mich vor Meister Harpokrates, um ihm so meinen Dank zu zeigen. „Es gibt nichts zu entschuldigen, Hoheit. Ihr wart noch jung und hattet einen Vormund. Dass ihr hier vor mir steht, zeigt, was für ein Mann aus Euch geworden ist. Nun würde ich euch gerne etwas zeigen", antwortete Meister Harpokrates, ehe er sich zu seinem Tisch drehte und von diesem etwas in die Hand nahm. Als er sich wieder mir zuwandte, sah ich eine violettfarbene Blume in seiner Hand. Sie hatte eine Ähnlichkeit mit einem Wyvernschwanz.
„Ist das ein Wyvernschwanz? Was für eine ungewöhnliche Farbe."
„Dies ist ein wilder Wyvernschwanz. Die rauen Gefilde, die sie beheimaten, verleihen dieser Art ihre besondere Färbung. Im Wuchs entspricht sie ihren gezüchteten Artgenossen, doch in der Blüte zeigt sich, wie anders sie sind. In dieser Blume sehe ich euch, eure Hoheit. Ihre Wurzeln, wie die aller Wyvernschwänze, sind voller Gift. Doch was sie ausmacht, ist ihre eigene, eigenwillige Schönheit. Nehmt diese Blume. Auf dass sie euch immer daran erinnert", sprach Meister Harpokrates.
Ich sah zu diesem besonderen Wyvernschwanz, dieser wirklich wunderschön war. Doch auch, wenn Meister Harpokrates mich in dieser Blume sah, so tat ich es nicht. Ich sah in diesem Wyvernschwanz eher meine Schwester und in mich den Wyvernschwanz, den Tethys damals in Oriflamme fand. Den weiß, violettfarbene gemusterten. Ich hielt meine Hand vor Meister Harpokrates, als er mir die Blumen reichen wollte. Ich sah den traurigen Blick meines alten Lehrmeisters; ich wollte ihn nicht abweisen, aber ich wollte ihm erklären, warum ich diese Blume nicht annehmen konnte, jedenfalls in diesem Moment nicht.„Meister Harpokrates. Ich habe eine Bitte an euch: Behaltet ihr diese Blume, verwahrt sie für mich. Bis ich meine Pflicht erfüllt habe, erst dann werde ich, das Recht haben und würdig sein, diese Blume zu bekommen. Bis das hier alles vorbei ist, soll sie in guten Händen sein. Diese Blume soll rein bleiben und nicht mit den Taten eines Kampfes besudelt werden."
Meister Harpokrates nickte. „Wenn ihr das so wünscht, Eure Hoheit, kümmere ich mich um diese Blume, bis ihr wieder wohlauf hier seid", sagte er mit traurigem Blick und leiser Stimme.
Ich nickte Meister Harpokrates dankend zu, drehte mich um und ging dann. Neben Joshua und Tethys blieb ich stehen, ich wandte mich an Joshua.
„Ich danke dir, nein euch beiden. Ohne euch, hätte ich dieses Gespräch nie geführt." Joshua nickte, meine Schwester sah ich nur einen Augenblick an. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen. Ich wusste, was ich sehen würde, Enttäuschung und Wut. Darüber, dass ich sie verlassen würde und mich in diesen Kampf stürzte.„Gut, du hast dich mit Meister Harpokrates ausgesprochen und jetzt will ich, dass wir noch einmal reden, Dion. Ich möchte nicht, dass du gehst und ... vielleicht nicht mehr zurückkommst, nur weil du denkst, ich würde dich hassen. Also bitte, rede mit mir", wandte sich Tethys an mich, ich schluckte, nickte jedoch, verabschiedete mich von Joshua und verließ mit Tethys das Archiv, während Joshua noch zu Meister Harpokrates ging.
Ich fand mit Tethys einen Platz, wo wir miteinander redeten. Aber nicht nur über das, was sie bedrückte, was sie gesehen hatte. Nein, sie benötigte auch meinen Rat. Doch viel weiterhelfen konnte ich ihr nicht, außer ihr zu sagen, dass sie auf ihr Herz hören sollte und somit die richtige Entscheidung treffen würde, wenn es so weit wäre.
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Vereint durch das Schicksal
FanficTethys Lesage, Zwillingsschwester von Dion Lesage wird im Gegensatz zu ihrem Bruder, von ihrem Vater verachtet. Er sieht in ihr keinen Nutzen, da sie laut ihm kein Dominus ist, doch er irrt sich. Als Annabella Rosfield Tethys Vater, den Vorschlag ma...