Kapitel 8 | Maldon

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„Was ist?", nehme ich nervend den Höhrer ab und schaue in die Richtung, wohin sich Every begeben hat. Meine Gedanken stehen still. Meine Laune ebenso. Ihre Anwesenheit heute hat mich teils erleichtert, doch ihr Zustand zerrissen. Ich wusste, dass sie in keinem guten Zustand ist, doch dies zu sehen hat den Augenblick für mich massiv erschwert. „Du warst den ganzen Tag heute nicht da. Ich wolle fragen, ob du nachher vielleicht kommen wirst?", sagt er laut und schreiend in das Telefon. Seine Schreie sind so laut, dass ich einen kleinen Abstand zwischen mein Ohr und mein Handy bringe.

Kurz überlege ich, ob ich Every allein lassen sollte, doch dieser Gedanke verschwindet schnell. Meine Angst sie allein zu lassen oder nicht im Augenwinkel beobachten zu können, bringt mich seit dem gestrigen Tag um den Verstand. Deshalb lege ich das Handy wieder an mein Ohr und fange an zu reden. „Ich komme nicht. Und eventuell auch morgen nicht. Ich sag dir Bescheid." Und lege auf. Sofort stecke ich mein Handy in die Tasche und laufe zum Thesen. Dort angekommen, schaue ich mich um und sehe in der Ecke, wie Every ihre ganze Aufmerksamkeit dem Geschirr weiht. „Entschuldigung, bekomme ich noch einen Espresso?", frage ich laut, in der Hoffnung von Every bedient zu werden.

„Klar. Aber sie können dann abends nicht schlafen.", kommt die schwarzhaarige mir entgegen und meine Hoffnung stirbt. Sie fängt mit mir den üblichen Small Talk an, doch mein Blick und mein ganzes Interesse gilt ihr. Nur ihr. Als mein Espresso fertig ist, gebe ich ihr das Geld und setzte mich wieder auf meinen Platz. Die Schwarzhaarige kommt immer wieder zu mir an den Tisch und beugt sich vor um die Sachen zu heben oder mein Tisch zu räumen. Natürlich wird mir klar, wie sie meine Aufmerksamkeit auf ihre Brüste ziehen möchte. Schon am Thesen hat sie sich ihr weinrotes Pulli, dass mit Knöpfen von oben bis zur Mitte verziert ist, nach unten geknöpft. Doch nichts hat meine Aufmerksamkeit genommen wie die von Every.

Wie sie flüchtend ins Badezimmer gerannt ist.

Wie sie sich übergeben hat.

Wie sie sich schluchzend gegen die Toilette gelegt hat und weinte.

Meine Laune verschmiert mit jeder Stunde und als der Abend anbricht zum Feierabend, räume ich meine Sachen auf. Noch viele Leute sind in dieser Bäckerei und als die massive Menschenmenge aufstehen und den Raum verlassen will, behebe ich mich selbst und laufe raus. Draußen angekommen, lehne ich mich an der braunen Wand neben der Bäckerei an und warte. Ich warte bis Every die Arbeit verlässt.

Im gleichen Moment als ich zu meinem Auto laufen will, läuft sie raus und fängt an schwer zu atmen. Sie lehnt sich neben mich an die Wand und atmet tief ein und aus. Ihre Augen hält sie geschlossen und fasst sich mit den beiden Händen am Bauch. „Ist kalt heute, nicht wahr?", frage ich, nach vorne gerichtet und spüre, wie sie mich anguckt. „Was machen Sie hier?", fragt sie verwirrt und zieht eine Braue hoch. Ihre Augen schweifen von der Bildfläche und sie schaut mich immer intensiver an. Ich richte jetzt meinen Blick genauer auf sie und stelle fest, dass sie gleich fallen wird. Ihre Brust hebt und senkt sich in großen Schritten. Sie tut ihre Hand auf die Brust und schaut auf den Boden.

„Ich habe f...", weiter komme ich nicht, da sie sofort ihr Gleichgewicht verliert. Sie fällt auf mich, doch ich schaffe es rechtzeitig sie zu fangen. Flüchtig ziehe ich sie an meine Brust und platziere ihr Kopf an meinem Hals. Da ich heute früh hier war, konnte ich das Auto direkt gegenüber der Bäckerei parken. Ich laufe schnell zu meinem Auto und öffne mit meinen Ellenbogen den Beifahrerplatz. Langsam lege ich sie hin und schnalle sie an. Ich will die Tür schließen, doch ich bleibe vor ihr. Ich bin gebannt von ihrem faszinierenden Aussehen und dem schönen Duft, denn ich nicht mehr aus meinem Kopf rauskriege. Ich beuge mich vor sie, bis ich ganz dicht vor ihrem Gesicht bin. Ihr Atem geht regelmäßig. Ihre Augen sind geschlossen, doch ihr Körper nicht. Ich fühle, wie ihr Herz schmerzt und meins brennt. „Du hast versagt! Wortwörtlich versagt!" Die Worte pflanzen sich in mein Kopf und ich kriege sie nicht mehr raus. Doch auch ich weiß, ich hätte sie retten können. Ich hätte sie vor diesen Schmerzen, vor dieser mächtigen Angst retten können.

Mein Mund nähert sich leicht ihren Wangen und ich gebe ihr einen leichten Kuss drauf. „Dir wird es besser gehen Eve. Viel besser. Das schwöre ich dir!"

Dann entferne ich mich von ihr und gehe aus der Tür raus. Ich schließe die Tür langsam und leicht zu, um kein lautes Geräusch zu entlassen und laufe dann zu meiner Tür los. Meine Hand an der Türklinke halte ich inne. Ich taste an meine Hosentasche und ziehe meine Zigarettenschachtel raus. Mit einem tiefen Seufzen ziehe ich eine Zigarette raus und zünde sie mit meinem Feuerzeug an. Der erste Zug lässt mich einatmen. Jede Sekunde von diesem Tag war heute nur an Every gerichtet. Und der erste Zug der brennenden Zigarre fühlt sich wie ein Preis an. Ein gewonnener Preis. Die Lichter Chicagos brennen in allen Farben. Meine Augen gehen über die Nacht und alles, was ich in diesem Moment beobachten möchte ist Every. Aber ich tue es nicht. Ich schaue mir die Geschäfte an, die schließen. Die ganzen Lichter in der Weihnachtszeit lassen Chicago gemütlicher wirken.

Die Bäckerei ist am Schaufenster weihnachtlich gerichtet. An der Wand hängen viele Lichterketten und auf dem kleinen Thesen sind viele Gebäcke gerichtet. Viele Menschen begeben sich in alle Richtungen. Manche gehen über die Straße um die ganzen Stände zu begutachten. Der letzte Zug meiner Zigarette lässt meine ganzen Gedanken abschwirren und ich begebe mich langsam zu meiner Tür. Mit der Hand ich werfe die Zigarette auf den Boden und öffne die Tür. Zugleich trete ich auf die Zigarette um sie auszuschalten und setzte mich anschließend in die Wärme. Im Auto schalte ich min Motor an und schaue noch mal kurz zu Every. Ihr Kopf an die Seite gelegt, schläft sie ruhig. Ihre Falten in ihrem ganzen Gesicht sind glatt gestrichen. Kurz zucken ihre Lippen nach oben und dann wieder nach unten. Als mein Blick sich wieder nach vorne richtet, fahre ich los. Kurz denke ich sie nach Hause zu fahren, doch dann entscheide ich mich zu mir zu fahren. Da morgen ein Feiertag ist, wird sie nicht arbeiten.

Und morgen, wenn sie zu sich kommt, werde ich reden.

Über sie.

Über mich.

Und über ihr Leben, für das ich verantwortlich bin.



Zuhause angekommen, öffne ich die große Eingangstür und fahre zum Parkplatz. Ich parke das Auto richtig ein und bringe es dann anschließend zum Stehen. Every schläft immer noch tief und fest neben mir. Mit einem grollen Gewissen öffne ich meine Tür und laufe zum Beifahrersitz. Ich öffne sie und schnalle sie ab. Sie seufzt kurz laut auf und dreht dann ihren Kopf zur anderen Seite. Ich hebe sie leicht behutsam hoch und schließe die Tür mit meinem linken Fuß zu.

Ihr Geruch kommt mir in die Nase und ich schließe meine Augen für einen kurzen Moment. Egal wie oft ich dieses Video in meinem Kopf versuche zu ignorieren, es erinnert mich wie ich versagt habe. Die Worte von diesem Mann, lassen mein Herz und meine Wut höher schlagen. Bevor ich etwas falsches machen kann, laufe ich zu meiner Eingangstür und öffne sie durch Fingerabdruck. Als die Tür aufgeht, laufe ich sofort die Glastreppen hoch und biege in mein Schlafzimmer. Im Hintergrund höre ich wie sich die Tür schließt und sich automatisch abriegelt. Sobald ich das Schlafzimmer betrete, laufe ich zu meinem Bett und lege sie dort sanft in meinem Bett ab.

Ihr Kopf geht unter dem großen Kissen unter, doch ich wage es nicht sie anzufassen. Deshalb nehme ich die große Decke und lege sie auf sie. Mit der Erschwernis, die in meinem Körper und meinem Leben sich verewigt haben, lege ich mich seitlich neben sie und stütze mich mit meinen Armen meinen Kopf. Ihren Kopf hat sie seitlich in meine Richtung gedreht und leichter Atem kommt mir entgegen. Mein Herz klopft in schnellen Takten. Da mein Schlafzimmer ein großes Fenster hat, scheint leichtes

Licht rein und ich kann sehen, wie sich ihre Gesichtsregungen ändern. Pure Entspannung ist in ihr Gesicht geschrieben. Ich nehme mir mit meiner freien Hand ihre blonde Locke in meine Hand. Ich bringe sie näher an mich und halt sie an meine Nase. So ein befreiender Duft. Ich lasse sie los, als sie sich ihr Haar aus meiner Hand nimmt und sich umdreht.

Pure Müdigkeit überrollt mich abrupt und ich stehe auf. Ich verlasse das Bett und laufe zur weißen Couch, die gegenüber meinem Bett platziert ist. Ich lasse mich drauf fallen und ziehe während ich liege, meine Schuhe aus. Nachdem ich meine Schuhe ausgezogen habe, schließe ich meine Augen.

Und genau in dem Moment schießen die Erinnerungen hoch und zerstören mich. Narben, die sich angebunden haben, lassen sich nicht heilen. Verborgene Angst, die sich mittlerweile sichtbar macht, bringt mich innerlich um.

Und bevor ich mich befreien kann, nimmt es mich mit in die Vergangenheit.

Zu meiner persönlichen Hölle.

Maldon Remid - Boundless love of liesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt