Wincent lief in Gedanken versunken und schnellen Schrittes zum Hauptbahnhof in München. Er zog seine Cap tief ins Gesicht, um unerkannt zu bleiben. Seine Gedanken waren bei Steffi - war sie doch nicht die Frau fürs Leben? Sie hatten sich mal wieder über das Thema Kinder gestritten. Wincent verspürte diesen tiefen Wunsch Vater zu sein. Er war dieses Jahr 30 geworden. Er war auf der Suche nach einem schönen Bauernhof in seiner Heimat im Norden, um etwas mehr Struktur und Ruhe in sein Leben zu bekommen. Steffi wollte das doch auch, oder etwa nicht? Sie liebten ihr Leben in der gemeinsamen Wohnung in Berlin, doch auf Dauer würde Wincent dort nicht glücklich. Verstand sie das nicht? Er mochte endlich diesem Trouble der Großstadt entfliehen. Er wollte einfach nur ankommen. Die Album Tour war eben zu Ende gegangen und es stand noch die Sommertour aus. Darauf hatte er noch richtig Bock. Er wollte es nochmal in vollen Zügen genießen, doch dann sollte erstmal Ruhe einkehren. Ankommen. So war doch der Titel seines gerade veröffentlichten Albums „Irgendwo ankommen". Er wusste wo er örtlich ankommen wollte, doch wollte Steffi das auch?
Er merkte nicht, wie er schon mitten im Bahnhof war. Plötzlich lief ihm ein kleines Mädchen mit Tränen überströmten Gesicht vor die Füße. Sie schaute verzweifelt an den vorbeilaufenden Erwachsenen hoch und schrie bitterlich nach ihrer Mama. Sie blickte in Wincents Gesicht, der mitleidig ihren Blick erwiderte und langsamer lief. Die Kleine schaute ihn eindringlich mit ihren blau-grünen Augen an „Wo ist meine Mama?", schniefte sie herzzerreißend.
Wincent wurde aus seinen Gedanken gerissen und sein Herz wurde warm. Er musste diesem kleinen hilflosen Wesen helfen. Er kniete sich vor das Mädchen und sagte zunächst: „Hallo, ich bin Wincent. Und wer bist du?" Das Mädchen schluchzte „Vi-Vi-e-enne." „Wie sieht deine Mama denn aus?" Schnell merkte er, dass diese Frage nicht zielführend war, da das Mädchen noch recht klein war. Er schätzte sie auf drei Jahre. Das Mädchen fing wieder an zu schreien, er strich ihr über den Arm, um sie zu beruhigen und sprach ihr ruhig zu: „ Wir finden deine Mama, versprochen". Das Mädchen wurde ruhiger. Wincent jedoch etwas verzweifelter, als er aufschaute und die vielen Menschen im Bahnhof sah. Als er sich wieder zum Mädchen nach unten kniete fiel sein Blick auf ihren Unterarm. Dort standen Zahlen mit Kuli geschrieben. Als er genauer hinschaute verstand er, dass dies eine Handynummer war. Es sprudelte aus ihm heraus: „Das ist die Telefonnummer von deiner Mama, oder?" Schnell zog er sein Handy aus der Tasche, wählte die Nummer und nahm das Mädchen in der Zwischenzeit auf seinen Arm. Er sah noch die Angst in ihren Augen, doch sogleich kehrte Entspannung in ihren Körper ein, als sie auf seinem Arm war. Sie lehnte erschöpft ihren Kopf an seine Schulter. Wincent durchströmte ein Glücksgefühl, das er so nicht kannte und nicht beschreiben konnte. Für einen Moment vergaß er alles um sich herum, doch wurde von einem „Hallo?" aus seinem Handy am Ohr geerdet. „Äh, hi, ich steh hier in München am Hauptbahnhof mit einem kleinen Mädchen Namens Vivienne." „Viviii, Gott sei Dank", klang es erleichtert am anderen Ende. „Wo stehen Sie denn, wo finden wir Sie?"
Wincent schaute sich um und kam wieder in der Realität an. Er war mitten im Hautpbahnhof München zu einer Zeit, in der er normalerweise nicht hier war und wenn, dann nur in schnellen Schritten mit Blick auf den Boden möglichst nicht erkannt zu werden. Er suchte verzweifelt einen etwas abgelegeneren Ort. „Hallo, sind Sie noch da?" „Äh, ja, Entschuldigung, ich glaube Vivienne schläft mir gleich auf dem Arm ein. Es wird am einfachsten sein, wir treffen uns bei Gleis 11 in der Nähe von der Bahnhofs Mission. Dort ist eine schattierte Niesche." Was machte er denn da? Er trug ein fremdes kleines Mädchen mitten durch den Münchner Hauptbahnhof. Hoffentlich sah es keiner und fotografierte. Dieser Gedanke verschwand so blitzschnell wie er aufkam. Er verspürte unmittelbar solch ein Glücksgefühl, diesen kleinen Menschen beschützen zu dürfen und Geborgenheit zu schenken. Diesen Moment wollte er nicht mehr hergeben. Sein Verlangen endlich Vater zu werden steigerte sich in diesem Augenblick ins Unendliche, sodass er es kaum aushalten konnte.