Am Strand angekommen zog sich Wincent sofort die Schuhe aus und vergrub seine nackten Füße im Sand. Er schloss die Augen, atmete tief ein, spürte den Sand zwischen den Zehen und lauschte einen Moment der leichten Meeresbrandung. Endlich wieder am Meer. Er konnte es nicht beschreiben, doch das Meer hatte immer schon eine besondere Wirkung auf ihn. Es war beruhigend, fast schon meditativ. Hier konnte er alles vergessen, alle Sorgen, alle Ängste. Es war fast schon ein reinigendes Gefühl. Nicht nur die Lungen wurden mit frischer Meeresluft versorgt, sondern auch sein Kopf. Früher war er fast jeden Tag nach der Schule an den Strand gegangen und hatte dort seine Hausaufgaben gemacht. Er vermisste die Ostsee. Das wurde ihm bei jedem Besuch wieder bewusst.
Sie hatten einen abgelegeneren Strandabschnitt ausgesucht, an dem nicht viele Personen unterwegs waren und Wincent unerkannt in Ruhe mit seiner Mutter spazieren und reden konnte. „Was bedrückt dich, mein Großer", fragte Angela schließlich sanft. „Steffi hat sich getrennt", gab er ungefiltert von sich. Angela schluckte. Sie hatte es nach Wincents Aussage auf dem Balkon vermutet. Wincent begann von den Streitereien mit Steffi zu erzählen, die sie seit einiger Zeit gehabt hatten. Er erzählte von dem Tag in München, als er Vivi gefunden hatte. Er beschrieb genauestens, was Vivi in ihm auslöste und wie der folgende Morgen mit Steffi in Berlin abgelaufen war. Beim Erzählen fiel ihm jedes Wort von Steffi ein, das sie zu ihm gesagt hatte. Wie beim ersten Mal lösten sie nichts in ihm aus. Es war rational betrachtet so eindeutig und wenn er es seiner Mutter vortrug ebenfalls. Überrascht von seiner Emotionslosigkeit, erzählte er weiter von seinen Gedanken, die er nach dem Treffen in Hamburg hatte. Er verfing sich wieder in diesen Gedanken voller Selbstzweifel und Erinnerungen an die Trennung von Yvonne. Mit jedem Wort, das er weitersprach zerbrach etwas in ihm. Es wurde kälter in ihm. Die Sonne war bereits hinter den Häusern verschwunden und die Dämmerung brach an. Ein frischer Wind zog auf. Wincent ließ sich in den Sand fallen, zog seine Beine dicht an sich um etwas Wärme zu spüren und vergrub sein Gesicht auf seinen Knien. Seine Mutter setzte sich neben ihn, legte einen Arm um ihn und zog ihn zu sich. Wincent legte seinen Kopf auf ihre Schultern. Schweigend schauten sie aufs Meer und hingen ihren Gedanken nach. Angela mochte Steffi. Sie war eine selbstbewusste Frau, die genau wusste, was sie wollte. Sie konnte von Anfang an ihren Sohn verstehen, dass er von Steffi fasziniert war. Steffi hatte ihm in dieser Lebensphase gut getan. Er wirkte seither ausgeglichener und orientierter. Angela kannte den tiefen Wunsch von Wincent Vater zu werden und seine Kinder auf dem Land aufwachsen zu sehen. Sie hatte immer schon ihre Zweifel, ob sich Steffi das auch so vorstellen konnte. Sie war von Steffis Entscheidung in Berlin zu bleiben und in naher Zukunft keine Kinder zu wollen nicht überrascht. Das passte zu Steffi ihrer Meinung nach. Doch das passte nicht zu den Vorstellungen und Träumen ihres Sohnes. „Ich denke, du solltest dir bewusst und sicher werden, was du für deine Zukunft willst, was dir wichtig ist und du erreichen möchtest. Das sollte auch Steffi tun. Und dann vergleicht eure Vorstellungen und überlegt, ob ihr diese gemeinsam erreichen könnt. Sprecht nochmal in Ruhe darüber", fasste Angela nun ihre Gedanken laut zusammen. Wincent blickte schweigend aufs Meer bis er sich zu seiner Mutter drehte, ihr einen Kuss auf die Wange gab und sie feste drückte „Danke. Du bist einfach die beste!"Auf dem Weg zurück zum Auto kam ihnen eine Joggerin mit Hund entgegen. Beim Anblick des im Dunkeln schwarz aussehenden größeren Hundes schoss Wincent das Bild von Vivienne in den Kopf. Sofort musste er lächeln und ihm wurde warm ums Herz. Im Auto kramte er sein Handy heraus und öffnete das Foto von Vivi und dem Hund. Mit leuchtenden Augen zeigte er das Foto seiner Mum. Sie musste schmunzeln. Vivienne war wirklich eine süße Maus. Angela betrachtete ihren Sohn. Er war wie ausgewechselt im Vergleich zu vorhin, als er zerbrochen im Sand gesessen war. Sie wünschte ihm so sehr, dass er eines Tages die eine Frau fand, mit der er glücklich seine Kinder aufwachsen sehen konnte und somit seine Wünsche und Träume erfüllt bekommen würde.