Nachdem sie sich von Marco und seiner Freundin verabschiedet hatten, begleitete Wincent Steffi zu ihrem Auto. „Fährst du heute noch zurück nach Berlin?" „Nein, ich bin bei Claudi untergekommen. Die wohnt etwas außerhalb. Muss noch etwa 40 Minuten fahren." „Ok. Du kannst auch mit zu Johannes kommen, wenn du magst." „Ne, lass mal, da muss ich morgen nochmal quer durch die Stadt fahren." „Ok. Wie es dir lieber ist." Wincent war etwas überfordert mit der Situation. Er stand vor der Frau, die er über ein Jahr lieben gelernt hatte. Die ihm so viel Freude wieder am Leben gegeben hatte. Nach seiner depressiven Phase hatte er sich schon wieder berappelt, doch sie kennenzulernen gab das i-Tüpfelchen dazu. Er konnte in jeder Kleinigkeit Wunder sehen und das Hier und Jetzt einfach wieder genießen. Bei ihr konnte er ankommen. Sie hatte in ihm dieses Gefühl von Bleiben wollen ausgelöst. Er war nicht mehr so rastlos und ziellos. Wie konnte es sein, dass es das nun mit den beiden war? Hatte er nur genommen? Was fehlte Steffi? Sie mussten unbedingt nochmal reden, aber nicht hier und jetzt. Wincent musste erst einmal seine Gedanken sortieren. „Ich habe diese Woche noch einige Drehtage und Termine hier in Hamburg. Danach gehe ich in die Heimat. Würdest du ein paar Tage kommen wollen? Wir sollten nochmals reden." „Ich überleg's mir", antwortete Steffi knapp, doch ergänzte: „mit dem Besuch. Wir werden eine Zeit finden zum Reden." Sie umarmten sich kurz zur Verabschiedung und Wincent schaute dem wegfahrenden Auto hinterher. Er blieb einige Minuten starr stehen. Er konnte sich nicht bewegen. Vor seinem inneren Auge erschienen die unterschiedlichsten Szenen des letzten Jahres mit Steffi. Wie sie sich bei einem Shooting zum ersten Mal getroffen hatten. Wie ihre grünen Augen ihn sofort in den Bann gezogen hatten und er ihr gar nicht mehr richtig zugehört hatte, was sie zu ihm gesagt hatte. Dies hatte natürlich zum ersten peinlichen Moment geführt gehabt, in dem er gekonnt seine Dorftrottel Seite offenbart hatte. Wincent sah sich noch wie gestern vor dem Spiegel sitzen. Steffi hatte ihm in dem Moment die Haare gestylt und er hatte sie über den Spiegel beobachtet. Ihr Lachen und ihre Freude bei der Arbeit hatten ihm imponiert. Wie gut, dass dieses Shooting über mehrere Tage gegangen war. So hatte Wincent öfters vor ihr auf dem Stuhl gesessen und die Möglichkeit gehabt mit ihr zu plaudern und Zeit zu verbringen. Sie hatten sofort eine besondere Verbindung gespürt. Abends waren sie oft noch in der Hotelbar verabredet und hatten bis in die Nacht geredet. Mit ihr hatte sich alles soviel leichter angefühlt. Sie hatten einen tollen Sommer verbracht. Unvergessen bleibte der Winterurlaub. Sie hatten so viel Freude im Schnee gehabt, bis zur legendären Schlittenfahrt, die mit Gipsfuß geendet hatte. Der Gedanke an die erste Dusche nach dem Unfall ließ Wincent kurz schmunzeln. Er war in der Hoteldusche gelegen, Gipsfuß draußen und Steffi hatte ihn eingeseift. Ja, und Sex mit gebrochenem Fuß war auch schwierig, anfangs. Aber das alles hatten sie hinbekommen. Steffi war da und hatte ihn unterstützt. Sie hatte Verständnis für seinen Job gehabt. Sie selbst war als Visagistin und Stylistin viel unterwegs und kannte den Alltag am Set. Sei es Fernsehshows oder diverse andere Shootings. Trotz ihrer Beschäftigungen hatten sie es geschafft, sich in dem Jahr häufig zu sehen und Zeit zu verbringen. Wincent war dadurch so motiviert und beflügelt worden, dass er es doch schaffen würde, trotz seines Berufs eine gesunde Beziehung zu führen. Doch war sie dies wirklich gewesen? War Steffi glücklich gewesen? Hatte er etwas übersehen? Sie schien doch immer losgelöst und zufrieden, wenn sie zusammen waren. Klar, war immer noch sehr viel los, das war ja auch ein Grund 2024 zwei Schritte zurückzuschrauben. Wincent brauchte nicht nur Zeit für sich zum Orientieren und Ankommen, sondern wollte diese Zeit auch besonders mit Steffi verbringen. Steffi war ein totales Stadtkind. Sie war in Berlin aufgewachsen und liebte diese Stadt. Die Ausflüge an die Ostsee und zu Wincents Familie auf dem Land in Ostholstein hatten ihr doch immer gefallen. Sie war nach den Tagen auf dem Land viel entspannter und hatte selbst gesagt, wie gut ihr das Meer und das Land getan hatten. Sie hatte doch gesagt, sie könnte sich vorstellen, dort zu wohnen. War dem nicht so? Warum hatte sie es geäußert und Wincents Plänen mit freudigen Augen zugestimmt, sie würde mitkommen. Welche Zeichen hatte Wincent nicht gesehen? Sie hatten doch Pläne.

Wincents Gedanken begannen zu kreisen und es zog ihn immer tiefer. Er merkte, wie ähnliche Gefühle aufkamen, wie er sie damals nach der Trennung von Yvonne gehabt hatte. Wie in Trance bewegte sich Wincent zu seinem Auto bis sein Handy einen Ton abgab. Gedanken verloren öffnete er die Nachricht und blickte in zwei blaugrün strahlende Augen, die sich an einen großen schwarzen Hund kuschelten. Sofort wurde ihm wärmer um Herz und der kühle negative Gedankensog wurde prompt unterbrochen. Seine Gesichtszüge entspannten sich und formten ein Lächeln auf seinen Lippen. „Vivi liebt Hunde und alles was Fell hat. Noah braucht immer ein wenig Gewöhnungszeit", las er unter dem Bild, das Vivienne mit einem großen schwarzen Hund zeigte. Anna hatte ihm auf seine Nachricht vom Mittag geantwortet. Sofort schickte er ein Herz zurück. Was machte nur dieses kleine Mädchen mit ihm? Seine Gedanken waren wie ausgetauscht. Er liebte Tiere, er liebte Kinder. Das ist die Zukunft, die er erreichen wollte. Und das gerne bald. Ein alter Bauernhof, ein paar Kühe, Hühner, Schafe und vor allem ein Hund, das ist das, was er für seine Zukunft wollte. Der Ort, an dem er seine Kinder aufwachsen sehen wollte. Berlin war schön und gut zum Arbeiten, aber er wollte dort nicht mehr wohnen. Er musste aus der Großstadt raus. Mit einem Lächeln auf den Lippen fuhr er durch die Nacht und schlief in Johannes Wohnung angekommen schnell ein.

Ey, was für ein JahrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt