Wenig später sah er eine junge Frau mit einem etwa fünfjährigen Jungen an der Hand auf ihn zu eilen. Sie hatte nur Augen für das kleine Mädchen. „Vivienne, du kleine Ausreißerin", sagte sie liebevoll und hörbar erleichtert, als sie vor ihm zum Stehen kam und das Mädchen nehmen wollte. Wincent wollte sie eigentlich noch nicht hergeben, zu sehr genoss er diesen Moment. Die Kleine ist tief eingeschlafen und lehnte an seiner Brust, wo er ihren gleichmäßigen Atem spürte. Sie klammerte sich an seinem Oberarm fest, als die Mutter sie auf ihren Arm nahm. Das versetzte seinem Herz einen kleinen Stich. „Vielen Dank, dass Sie sich um meine Tochter gekümmert haben und die Handynummer entdeckt haben." Er wurde wieder von dieser sanften Stimme aus seinen Gedanken gerissen. „Äh ja, klar. Keine Ursache. Sie ist ganz schön erschöpft von dem Schreck". Er konnte seinen Blick von der Kleinen, die sich nun an die Schulter ihrer Mutter schmiegte, nicht abwenden. „Wie kann ich Ihnen danken? Müssen Sie auf den Zug?" „Keine Umstände, ich hab das wirklich gerne gemacht. Oh Mist, da fährt grad mein Zug davon", sagte er mit einem Lachen. „Oh nein, das tut mir leid. Dann vielleicht ein Kaffee?" Die junge Frau schien ihn nicht zu kennen und erzählte eifrig weiter: „Wir sind gerade mit dem Zug angekommen und sind auf dem Weg zu meinem Bruder. Der hat den Pizzaofen bereits angeschmissen. Wir müssen noch paar Haltestellen mit der U-Bahn fahren. Wir sollten zügig dorthin. Das könnte ich Ihnen alternativ zum Kaffee anbieten." Wincents Blick fiel auf den Jungen an ihrer Hand, dann auf die Mutter mit der Kleinen auf dem Arm. „Pizza klingt super. Mein nächster Zug geht erst in 2h. Ich glaube Sie könnten auch eine Hand mehr gebrauchen", sagte er und lächelte den Jungen an, der genauso blau-grüne Augen hatte wie seine Schwester. Wincent erschrak über die Worte, die eben aus seinem Mund kamen. Was machte er hier? Was machte diese Situation mit ihm? Diese Kinder lösten in ihm ein unbeschreibliches Gefühl aus. Er konnte es nicht benennen, wusste aber, er wollte es nicht so schnell gehen lassen und musste noch mehr Zeit mit ihnen verbringen. Außerdem hatte er Hunger, also doch perfekt. „Soll ich Vivienne wieder nehmen?", fragte er die Mutter, „oder kommst du an meine Hand?" Er kniete sich zu dem Jungen. „Ich heiße Wincent, wie heißt du denn?" Der Junge versteckte sich etwas beschämt hinter den Beinen seiner Mutter und nuschelte: „Noah". Wincent streckte ihm seine Hand entgegen. Zögerlich griff der Kleine danach. So zogen sie los Richtung U-Bahn Haltestelle. Es war viel los und die junge Mutter war einfach froh, doch nicht alleine im Getummel mit den beiden Kids zu sein. Sie musste erst noch den Schreck verarbeiten, gerade noch eins ihrer Kinder nicht mehr bei sich gehabt zu haben. Sie war unsagbar froh, dass sie noch die Idee mit der Handynummer auf dem Arm hatte. Sie musste sich unbedingt nochmals ausdrücklich bei dem jungen Mann bedanken, dass er sich die Zeit genommen hatte und sogar auf Gefahr seinen Zug zu verpassen sich um Vivi gekümmert hatte.Erst jetzt schaute sie Wincent genauer an. Sie betrachtete ihn: seine Cap war tief gezogen und sein Blick nach unten auf Noah gerichtet. Sie unterhielten sich gerade über Züge. Er hatte ein schwarzes T-Shirt an, in dem sich sein muskulöser Oberkörper abzeichnete. Ihr Blick blieb auf den trainierten Oberarmen hängen. Ein Kribbeln durchfuhr ihren Körper. Als sie die zwei schwarzen Tattoo Striche in seinem Nacken entdeckte, verschwand das Kribbeln sofort und sie zuckte zusammen. Sie ahnte, wer da gerade neben ihr saß. Solche Striche hatte sie bis vor ein paar Wochen noch bei niemanden gesehen. Als Wincent hatte er sich bei Noah vorgestellt, das kann doch nicht wahr sein. An der Zielhaltestelle ausgestiegen liefen sie weiter zur Wohnung ihres Bruders. In einer ruhigen Straße traute sie sich: „Ich bin übrigens Anna, vielen Dank nochmal, Wincent". Er schaute verdutzt und erschrocken zugleich auf und blickte in ihr Gesicht. Erst jetzt schaute er in diegleichen blau-grünen Augen, wie sie die zwei Kleinen hatten. „Vor nem halben Jahr hätte ich nichtmal um deine Existenz gewusst", lachte sie locker und Wincent war froh, dass sie wohl kein krasser Fan war, die ihn erkannte. „YouTube Algorithmen waren der Meinung ich sollte mir mal The Voice Kids anschauen und da musste ich erstmal die Coaches abchecken. Lena kannte ich und die Fantas sagten mir auch was. Aber Alvaro und du?", sie lachte. Auch er musste lachen: „Da sollte ich mich wohl bei den YouTube Algorithmen bedanken!?"