Wincent schaute Antonia und Anna gedankenversunken nach. Er richtete sich auf und atmete laut aus. Er wusste gar nicht wo sein Kopf stand. Er hatte kaum die Ereignisse der letzten Tage verarbeitet, das Shooting auf dem Hof Güldenstein, das Aufeinandertreffen mit Steffi, geschweige denn den unerwarteten Sex mit ihr, das Meeting in Berlin bei Universal bezüglich dem Weihnachtsalbum. Es ging Schlag auf Schlag. Und dazwischen kamen immer wieder Fotos von Vivi und Noah, die ihn so positiv abgelenkt hatten und in eine andere Gefühlswelt hoben. Einer positiven, träumerischen Welt. Das Konzert war der Hammer. Das Adrenalin und die Endorphine, die durch seine Adern strömten bei der herrlichen Kulisse am Bodensee, gaben ihm einen weiteren Glücksgefühl Schub. Gleichzeitig waren da die Lieder, die er mit Steffi verband. Besonders „irgendwo ankommen". Doch was er in der letzten Stunde von Anna erfahren hatte war heftig und Wincent wusste gar nicht, wie er damit umgehen sollte. Er war froh, sich gleich in seinen BMW setzen zu können und Ruhe zu haben. Er liebte es, nach einem Konzert allein in seinen eigenen vier Türen zu sitzen und zu fahren. Wobei, Amelie, sie wollte er heute wieder bei sich haben. Sie hatte ihn schon die Fahrt vom Norden nach Berlin und von Berlin nach Friedrichshafen wunderbar begleitet. Sie wusste einfach, wann was zu sagen war und wann Schweigen angebracht war. Sie kannte ihn. Mit ihr konnte er über alles reden, egal über was und egal wie intim. Er war so dankbar, sie als Freundin zu haben.

Nach einem kurzen Tankstop ging es Richtung Osterode. Als sie einstiegen fragte Amelie zum wiederholten Mal: „Bist du dir sicher, dass ich nicht fahren soll?" „Ja", brummte Wincent genervt. Hatte er nicht gerade noch darüber nachgedacht, wie dankbar er war, Amelie als Freundin zu haben und jetzt pampte er sie so an. Er ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen, stützte seine Hände auf dem Lenkrad ab, ließ seinen Kopf hängen und atmete tief durch. „Hey, was ist los?", fragte Amelie einfühlsam. „Nachdem du Anna und die Kinder besucht hast warst du wie beflügelt. Deine gute Laune war fast nicht auszuhalten. Nach dem Konzert warst du das ganze Gegenteil als sonst. Ich kenn dich, wie du mit einem breiten Grinsen von der Bühne kommst. Deine Augen sagten heute was ganz anderes. Als hättest du nur deine Pflicht erfüllt und keinen Spaß gehabt. Und jetzt nachdem du mit Anna am Wasser saßt, bist du als hättest du einen Toten gesehen", versuchte Amelie die Stimmung aufzulockern. „Nicht witzig", brummte Wincent und sah sie ernst an. „Oh", verstummte Amelie. Nach ein paar Minuten Schweigen fing Wincent an zu sprechen: „Wie unfair kann das Leben denn sein. Ich habe einen Vater, der lebt, der mich nicht wollte, der kein Interesse an mir hat. Und dann gibt es liebende Väter, die sich um ihre Kinder kümmern und sorgen, die viel zu früh aus dem Leben gerissen werden."
Ihm lief eine stumme Träne die Wange hinunter. Amelie schluckte und drückte seinen Oberarm. „Anna... der Vater von den Kids... er ist...", kamen Amelies Worte stockend hervor. „Die Kinder haben keinen Vater mehr. Er ist Anfang des Jahres nach einem Unfall gestorben", erklärte Wincent, drehte den Schlüssel in der Zündung und fuhr los. Die ersten Kilometer schwiegen beide. Jeder hing seinen Gedanken nach und blickten in die dunkle Nacht. „Was hältst du davon, heute nicht die ganze Strecke zu fahren? Du hast morgen keine Termine und brauchst nicht schon frühmorgens bei der Location zu sein. Lass uns ein Hotel nehmen", durchbrach Amelie mit ihrem Vorschlag die Stille. Wincent blickte auf das Navi. „Kann ich noch ins Gym?", fragte er fast flehend. „Klar, das wird dir gut tun", entgegnete Amelie und widmete sich wieder ihrem Handy. Kommentarlos programmierte sie das Navi neu. Sie hatten noch eine gute Stunde Fahrt bis sie beim Mcfit in Schweinfurt ankamen.

„Geil", kommentierte Wincent den Anblick des leeren Gyms spät am Abend, oder eher mitten in der Nacht. Er drückte Amelie sein Handy in die Hand und begann zu trainieren. Amelie machte ein paar Fotos, Selfies und Videos für seine Socialmedia Kanäle und postete sie direkt dort. Wincent war bereits in seiner Welt versunken. Mit lauter Heavy Metal Musik auf den Ohren brachte er seinen Körper an seine Grenzen. Er liebte es. So bekam er seinen Kopf frei. Nachdem Wincent sich im Gym ausgepowert hatte, ging es ins Hotel, wo er spät in der Nacht müde und erledigt ins Bett fiel.

Ey, was für ein JahrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt