Kapitel 1

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„Dear Ms. Lidya-Nur Özdil,

We have read your application letter, looked through your work as a photographer, and are quite impressed. Our decision is to offer you the job as the photographer for the Turkish national football team. As you already know, you will join their journey to win the European Championship in Germany and capture the best moments for our PR team. If you accept, we will wait for you on the 10th of June 2024 in Barsinghausen, where you will sign your contract with us and meet the players.

If you have any further questions, you can contact us.

Best regards,
The Turkish National Football Team"

Gänsehaut am ganzen Körper. Ein wahr gewordener Traum.

Die Fotografie war schon immer mein Ding, die eine Sache, die speziell nur mir gehörte. Es war ein anstrengender Weg hierher, aber ich tat alles, um meine Fotografie den richtigen Leuten zu zeigen. Mit 13 begann ich hobbymäßig, aber auch für kleines Geld die U16-Fußballmannschaft aus meinem Stadtteil zu fotografieren. Sechs Jahre später darf ich die Fußballmannschaft des Heimatlandes meines Vaters bei der Europameisterschaft im Heimatland meiner Mutter begleiten.

Mein Vater wäre so stolz.

Ohne Vorwarnung bekam ich ein Gefühl von Schwerelosigkeit im Bauch. Fühlt sich so Glück an? Wenn ja, will ich nicht, dass es aufhört. Mit dieser neugewonnenen Aufregung begann ich mein Fotografie-Equipment zusammenzupacken. In zwei Tagen muss ich schon in Barsinghausen sein, um die Papiere zu unterschreiben.

Viel hatte ich in meiner Einzimmerwohnung in München nicht, da ich vor kurzem erst zum Studium hergezogen bin. Meine Mutter ist mit meiner Tante in Bremen geblieben, da sie mir den Freiraum zur Entfaltung gönnen wollte. Ich liebe sie aus ganzem Herzen.

Mit einem Blinzelschlag saß ich auch schon in der Bahn nach Barsinghausen. Netterweise übernahm mein neuer Arbeitgeber die Kosten der Anfahrt, weshalb ich mich in einer Kabine der 1. Klasse meines Zuges wiederfand. Es gab Platz für vier, aber ich war alleine. Ich setzte meine Kopfhörer auf, als die Schiebetür meiner Kabine aufging.

Ich hätte auch mit weiteren Fahrgästen rechnen können.

Trotzdem fiel mir mein Herz in die Hose, als ich einen etwa 1,90 m großen Typen im schwarzen Tracksuit mit hellbraunen Haaren sah. Auch er hatte Kopfhörer auf, nahm sie aber ab, sobald er die Kabine betrat und mich sah. Seine Adidas-Trainingstasche warf er auf die dafür vorgesehene Ablage über unseren Köpfen und lächelte schüchtern, während er sich schräg gegenüber von mir hinsetzte. Sobald er saß, bekam ich die Möglichkeit, ihn genauer anzuschauen.

Es war scheinbar unerklärlich, aber er kam mir so bekannt vor. Die markanten Gesichtszüge, der Augenbrauencut. Nach einer Stunde Grübeln im Zug schlug der Blitz ein.

Es war Kenan Yildiz aus der türkischen Nationalmannschaft.

Der Kenan Yildiz, mit dem ich vermutlich die nächsten Wochen aufgrund meiner Arbeit zu tun haben werde. Der Kenan Yildiz, von dem ich zuletzt 2022 etwas mitbekam, weil er mit schlacksigem Körperbau, Manbun und extrem viel Potenzial zu Juventus als neuer Youngster gewechselt ist. Kein Wunder, dass ich ihn kaum wiedererkannt habe.

Vor mir saß nämlich ein junger Mann mit weitaus ausgeprägteren Wangenknochen, einem extrem gut gebauten Körper und einer komplett anderen Frisur. Er muss wohl gemerkt haben, dass ich ihn länger als normal angeschaut habe, da er von seinem Handy aufsah und nicht mehr sein schüchternes Lächeln aufsetzte, sondern eher wissend seinen linken Mundwinkel hob.

Er weiß, dass er attraktiv ist.

Wer weiß, etwas Spaß in den nächsten Wochen könnte nicht schaden? Schlimmstenfalls endet es unangenehm, aber wiedersehen muss ich ihn nach der EM nicht.

Bild von Dir - [Kenan Yildiz]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt