Kapitel 31

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Lidyas POV

Ich war emotional völlig ausgelaugt und hatte keine einzige Gelegenheit, allein zu sein. Es gab keinen Moment der Stille, in dem Kenan nicht an meiner Seite war, und das überforderte mich. Ein Teil von mir bereute die überstürzte Entscheidung, eine Woche ununterbrochen mit ihm zu verbringen.

Ich dachte, ich wäre daran gewöhnt, schließlich hatten wir schon einmal einen ganzen Monat lang zusammen verbracht. Aber das war etwas anderes: Damals zog sich am Ende des Tages während der EM jeder in sein eigenes Zimmer zurück und konnte die Eindrücke auf sich wirken lassen. 

Jetzt ging das nicht mehr – zumindest nicht in der kommenden Woche. Und genau jetzt hatte ich meinen emotional belastendsten Moment seit langem.

Gerade erst hatte ich nach fünf Jahren das Grab meines Vaters besucht und dabei auch noch meine Tante wiedergesehen. Das war das Letzte, was ich wollte.

Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, versuchte Kenan mir einzureden, meine Mutter habe meinen Vater geschlagen. Das ergibt doch absolut keinen Sinn, oder?

Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass die Streitigkeiten zwischen meinen Eltern je derart eskaliert sind. Auf der anderen Seite kann ich nie mit hundertprozentiger Sicherheit wissen, was in Zeiten passiert ist, in denen ich nicht anwesend war – oder die ich vergessen habe.

Das brachte mich innerlich um. Ich hatte immer gedacht, meine Langzeit-Amnesie sei etwas Gutes, weil sie mich vor schmerzhaften Erinnerungen schützt. Aber gerade hasste ich es, unwissend zu sein. Ebenso hasste ich es, nicht zu wissen, mit wem Kenan gerade am Telefon sprach.

Als sein Handy klingelte, sah ich auf dem Display nur eine nicht gespeicherte Nummer. Kenan erkannte sie jedoch sofort. Er zog hastig sein Handy aus der Tasche und deaktivierte Bluetooth, damit ich das Gespräch nicht mithören konnte.

„Hallo?" sprach er ins Telefon, betont unwissend. Aber ich kenne ihn. Er wusste genau, wer am anderen Ende der Leitung war. Das schwere Schlucken, das er anschließend hörbar machte, bestätigte meine Vermutung.

„Es ist gerade – nein. Ich habe damit nichts zu tun... Ich habe keine Ahnung, warum sie das getan hat. Es stimmt nicht. Baba, ich will darüber nichts mehr hören. Lass sie doch diese Lügen verbreiten... Ich werde sie ganz sicher nicht bloßstellen, saçmalama." Genervt fuhr er sich mit den Fingerspitzen über die Augenbrauen.

Danach herrschte eine längere Stille, doch ich konnte die laute, aufgebrachte Stimme eines Mannes auf der anderen Seite hören. Aus Kenans Worten wurde klar, dass es sein Vater war.

„Baba, das ist das Letzte, was ich dazu sage: Ich habe nichts mit diesem Mädchen zu tun, und es ist mir scheißegal, welche Lügen sie verbreitet. Und nein, ich missbrauche dein Vertrauen nicht. Ich verspreche dir, ich bin gerade auf dem Weg nach Bodrum und werde dort keinen Unsinn anstellen. Ich bin 19, du musst mich langsam-... Ey, ich kann mir das nicht mehr anhören. Wir sprechen später." Mit diesen Worten legte er abrupt auf.

Ich brachte keinen einzigen Ton hervor. Meine Stimmbänder blieben ruhig, während mein Blut heiß in den Kopf schoss. "Aufregung" wäre untertrieben. Ich war nervös, ängstlich, verwirrt und wütend zugleich.

Nervös, weil dieses Telefonat kein gutes Ende nahm.
Ängstlich, weil Kenans Worte und Tonfall nichts Gutes verhießen.
Verwirrt, weil ich nicht wusste, worum es ging und warum er in diesem Ton mit seinem Vater sprach.
Und wütend, weil er über ein Mädchen sprach, das anscheinend Lügen über ihn verbreitete – und weil ich enttäuscht war, dass er mich darüber im Dunkeln ließ.

Zum ersten Mal hörte ich ihn mit seinem Vater reden, und es fühlte sich seltsam an. Das wusste er auch, das erkannte ich daran, wie sein Adamsapfel auf und ab wanderte und er nervös an seiner Unterlippe herumspielte.

Bild von Dir - [Kenan Yildiz]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt