Linus
Marlon stand mir einfach nur bei und wartete bis ich endlich fertig war mit dem Heulen.
Dann stand er auf und ging in sein Zimmer, mit den Worten, er würde mir was zeigen wollen.
Er kam mit einer blauen Kiste unter dem Arm wieder. Diese stellte er vor uns ab und zog ein Bild raus.
Es zeigte eine wunderschöne junge Frau in einem roten Kleid. Sie lächelte in die Kamera, im Hintergrund war ein Teil vom Meer zu sehen.
"Das ist meine Mom.", sagte er.
Und jetzt erkannte ich es. Das Lächeln. Es war das gleiche wie Marlons.
Er holte noch ein paar Fotos raus und verteilte sie auf dem Bett.
"Bist das du?", fragte ich.
"Ja und daneben ist Luise."
Klein Marlon hatte die Arme von hinten um den Hals seiner Mutter geschlungen, während Luise auf der anderen Seite saß und an ihrem Schoß gekuschelt war. Sie alle lächelten in die Kamera.
"Und das war an Weihnachten. Da hab ich ein Dinocar geschenkt bekommen und war der glücklichste Junge der Welt."
Ich musste über den kleinen blonden Jungen lachen, der auf seinem neuen Dinocar saß. Daneben stand seine Mutter am Weihnachtsbaum und beobachtete ihn.
"Das hier ist ihre Halskette.", meinte er und holte eine perlenbesetzte, weiße Kette raus. "Die hat sie immer zu irgendwelchen Anlässen getragen. Ich bin froh, dass ich sie noch habe."
"Warum zeigst du mir das alles...?", fragte ich leise und schaute mir die Kette an.
"Weil ich dir zeigen will, dass ich weiß wie es ist, wenn dein großes Vorbild plötzlich nicht mehr da ist."
Ich schaute zu Marlon hoch und es versetzte mir ein Stich ins Herz, als ich wieder an Dad denken musste.
Teilten Marlon und ich etwa ein ähnliches Schicksal? Ich hab ihn nie gefragt was mit seiner Mom ist. Ehrlicherweise lag das eher daran, dass es mich nicht interessierte. Und jetzt fühle ich mich doch ein wenig schlecht, dass ich ihn nie gefragt habe.
So wie es aussieht redet er gerne über seine Mom und schwelgt in Erinnerung.
"Ich hab immer zu ihr aufgeschaut.", fing Marlon an. "Sie war meine Welt. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen, fand immer die richtigen Worte und ging mit guter Laune durch das Leben. Aber irgendwann änderte sich das. Es kam schleichend. Mom war öfters Abends unterwegs, kam erst spät nach Hause, wenn wir schon schliefen. Dad sagte uns immer, dass sie lange arbeiten muss. Irgendwann unternahm sie gar nichts mehr mit uns. Sie schrie Luise und mich an, wenn ihr etwas nicht gepasst hat. Auch, wenn wir gar nichts dafür konnten. Ich fragte Dad oft nach was mit Mom los ist und wann sie wieder die Alte wird. Doch er gab mir nie eine Antwort darauf. Mit der Zeit hörte ich die Beiden immer öfters streiten. Ich war damals elf und konnte das Ausmaß nicht verstehen. Ich hörte wie Dad immer wieder sagte, dass sie ihr Leben in den Griff kriegen soll und dass er mit uns abhauen wird. Dass er sich trennen wird. Für mich war der Gedanke unerträglich meine Mutter nie wieder zu sehen. Denn trotz allem liebte ich sie über alles und war der festen Überzeugung, dass sie irgendwann aufwacht und wieder die Alte ist. Doch als ich eines Tages aufwachte, war sie verschwunden. Ich fand Dad aufgelöst in der Küche. Bis heute weiß ich noch wie er mich angesehen hat und gesagt hat, dass sie nicht wiederkommen wird.
Zu dem Zeitpunkt war ich zwölf und verstand, dass sie uns verlassen hat. Ich hatte jahrelang damit zu kämpfen. Ich weiß, dass sie noch irgendwo da draußen ist und uns einfach nicht sehen will.
Erst als Luise und ich älter wurden, sagte Dad uns den Grund warum Mom abgehauen ist. Sie war drogenabhängig und wollte keinen Entzug machen. Sie ist abgehauen, weil ihr alles zu viel wurde. Sie war überfordert mit dem Mutter sein und hat uns im Stich gelassen."
Erst als ich lange ausatmete, merkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte.
Wow, damit hab ich nicht gerechnet.
"Es... Das tut mir so leid...", sagte ich leise und nahm ihn in den Arm.
Marlon erwiderte die Umarmung und zog mich auf seinen Schoß. "Ist okay. Ich hab mich damit abgefunden."
Ich löste mich aus der Umarmung. Seine Hände ruhten auf meinen Hüften, während meine Hände sich um seinen Nacken geschlungen haben.
"Hast du jemals wieder etwas von ihr gehört?"
"Nein. Nie. Vielleicht lebt sie mittlerweile nicht mehr. Ich weiß es nicht."
"Denkst du noch oft an sie?"
"An die frühere Mom, ja. An die jetzige. Die, die uns verlassen hat und jahrelang drogensüchtig war, denke ich nicht. Ich will sie als strahlender Mensch in Erinnerung behalten."
"Das ist schön..."
"Linus, ich möchte, dass du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn was ist. Ich bin da, wenn was ist."
"Danke."
Moms Stimme hallte durch das Haus. Ich kletterte von Marlons Schoß und half ihm die Fotos wieder in die Box zu packen.
"Auch, wenn deine Mom eine neue Beziehung hat, heißt es nicht, dass sie nicht an deinen Dad denkt.", fing Marlon an. "Frag ihr wie es ihr geht. Rede mit ihr."
"Ich glaube nicht, dass sie das so mitnimmt wie mich."
"Weißt du nicht."
Ich seufzte und nickte zustimmend. Vielleicht hat er Recht.
Langsam lief ich die Treppen hinunter und fand Mom in der Küche. Sie räumte gerade ihre Arbeitstasche aus.
"Hey, Schatz. Du warst heute nicht in der Schule oder?"
Ich schüttelte mit dem Kopf.
"Ist okay. Wie geht es dir?"
Dieses mal zuckte ich mit den Schultern. "Und dir?"
Sie schenkte mir ein leichtes Lächeln. "Solche Tage sind nicht einfach."
Ich nickte und spürte die Tränen in meinen Augen. "Ich vermisse ihn."
"Oh, Schatz... Komm her."
Sie nahm mich in eine feste Umarmung.
"Er ist immer noch bei uns.", flüsterte sie. "Er hat uns nicht verlassen."

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Trust me
RomansaAls Linus mit seiner Mutter zu ihrem neuen Liebhaber und seinen zwei Kindern zieht, fällt eine Welt für ihn zusammen. Er kämpft mit mentalen Problem, die er nach außen hin nicht zeigt. Langsam verliert er sich selbst immer mehr. Und dann ist da noch...