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Linus

Ich hielt die ganzen Halluzinationen und Alpträume langsam wirklich nicht mehr aus. Mir war den ganzen Tag über schwindelig und übel. Was wahrscheinlich vorallem durch den Schlafmangel und dem Kiffen kam.
Langsam trottete ich den Steinweg lang und hörte den Vögeln zu. Der Wind strich mir durchs Gesicht. 
Eine alte Dame kam mir entgegen, begrüßte mich und schenkte mir ein Lächeln. Ich erwiderte ihre Begrüßung mit einem gezwungenen Lächeln und blieb am Grab von Dad stehen. Dort stand ich nun einfach und schaute auf die immer noch lodernde Kerze, die ich gestern erst angezündet hatte.
"Jetzt guck nicht so traurig.", sagte Dad und tauchte hinter dem Grabstein auf.
Nein, bitte nicht noch eine Halluzination. Ich kann das wirklich nicht gebrauchen.
"Marlon lebt doch noch."
"Noch..."
"Und er wird auch weiterleben."
"Was ist, wenn er eine Pflegefall wird? Würdest du so leben wollen?"
"Hey, Kumpel. Denk so nicht. Du musst positiv denken. Das braucht er jetzt."
"Ich hab Angst um ihn..."
"Und das ist auch okay. Das ist normal. Stehe ihm bei. Er schafft das."
"Was macht dich da so sicher?", fragte ich und spürte wie mir die Tränen kamen.
"Ich werde dafür sorgen. Ich passe auf ihn auf."
Ich schaute in Dads warmes Lächeln. Das Lächeln, was mich immer aufgemuntert hat. Und als es nicht mehr da war, fand ich es in Marlons Gesicht wieder.
"Wirklich?", fragte ich.
"Aber natürlich. Er bedeutet dir viel und ich werde alles tun, damit ihr noch viel Zeit miteinander verbringt. Ich bin für euch da. Versprochen."
"Danke Dad... Ich vermisse dich."
"Ich dich auch, mein Kleiner. Geh zu Marlon. Und grüße ihn von mir."
Ich nickte nur und sah dabei zu wie er langsam verschwand.
Mit dem Handrücken wischte mich mir die Tränen aus dem Gesicht und drehte mich zum Gehen um. Die ältere Dame, welche mich gegrüßt hatte, hatte mich anscheinend die ganze Zeit über beobachtet und reichte mir nun ein Taschentuch.
"Danke.", murmelte ich.
"Mit wem hast du gesprochen?", fragte sie mit ihrer warmen Stimme.
"Niemandem..."
"Ich rede hier auch oft mit meinem Mann.", sagte sie. "Er erscheint mir immer und dann erzähle ich ihm von meinem Tag. Glaubst du an Geister?"
"Nein..."
"Ich auch nicht. Ist es nicht erstaunlich was unser Kopf alles so ausrichten kann?"
"Es war mein Dad..."
"Das tut mir leid, Junge."
"Schon okay..."
"Ist er erst vor kurzem verstorben?"
"Nein, es ist schon etwas her... Aber... Egal."
Wer bin ich, dass ich mich jetzt mit einer fremden Dame über Marlon unterhalte?
"Aber was?"
"Ist schon gut."
"Erzähl es mir. Manchmal tut es gut, einer außenstehenden Person alles zu erzählen."
"Mein Freund liegt im Koma und ich weiß nicht ob er wieder aufwachen wird..."
Sie legte mir ihre warme Hand auf die Schulter. 
"Wie ist dein Name?"
"Linus."
"Linus... Ich bin Greta. Ich verstehe deinen Schmerz. Lasse ihn zu, es ist normal und menschlich. Aber verliere niemals die Hoffnung. Sei für deinen Freund da."
"Danke..."
"Ich bin jeden Tag um diese Zeit hier. Wenn du reden möchtest, sprich mich einfach an."
Ich nickte und dann verabschiedete sie sich von mir.
Noch ahnte ich nicht, wie sehr mir Greta noch im Gedächtnis bleiben würde...

(...)

"Bleib bei mir...", flüsterte ich ihm zu. "Ich brauche dich... Ich bekomme meine Panikattacken ohne dich nicht unter Kontrolle."
Ich wischte mir die Tränen weg und schaute in sein Gesicht. Sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig zum Takt des Piepens vom Monitor.
"Und es tut mir leid, dass ich wieder kiffe. Ich weiß, ich soll das nicht tun. Aber es hilft mir für einen Moment meine Gedanken auszuschalten... Ich.. Ich liebe..."
Ich seufzte und schaute auf die Uhr. Es war Zeit zum Gehen. Ich war schon wieder viel zu lange hier.
"Hey.", hielt mich eine Pflegerin auf.
"Bin schon auf dem Weg."
"Nein, du kannst bleiben."
Ich schaute sie fragend an. Ihre braunen Augen waren voller Mitleid.
"Ich bringe dir einen Stuhl zum Schlafen. Bleib solange wie du willst."
"Wirklich?"
"Ja, es wird euch beide guttun."
Ich nickte und schickte meiner Mom eine schnelle Nachricht mit der Ausrede, dass ich bei einem Freund übernachte.
Die Pflegerin, welche laut ihrem Namensschild Mariam hieß, schob mir einen blauen Stuhl rein und brachte diesen in Liegeposition. Dann holte sie noch eine Decke für mich und legte sie über den Stuhl.
"Ich bringe dir gleich noch Wasser."
"Nein, das muss wirklich nicht sein."
Das letzte was ich will, ist ihr noch mehr Arbeit zu machen.
"Das ist in Ordnung. Ich mache das gerne."
Ich setzte mich in den Stuhl, zog die Schuhe aus und warf die Decke über mich, während ich auf Marlons Brust schaute. 
"Seid ihr ein Paar?", fragte Mariam und stellte das Wasser mit einem Glas neben mich.
"Ja."
"Wie lange schon?"
"Nicht lange... Es weiß noch keiner. Außer mein bester Freund."
Mariam lächelte mich an. "Melde dich, wenn was ist."
"Danke."
Es war nach langem endlich die erste Nacht, welche ich ohne Panikattacken und Albträume überstand.

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