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Linus

Seit zwei Tagen war er nun schon im Koma. Ich schlief nicht mehr und versuchte jede freie Minute bei ihm zu sein und seine Hand zu halten. Die Ärzte sagen, dass er eine schwere Kopfverletzung und ein Hirnödem hat. Das bedeutete, dass sein Hirn angeschwollen war. Als er eingeliefert wurde, musste er direkt in den OP. Nun konnte man nur noch abwarten, hoffen, dass das Hirn nicht weiter anschwillt und dass er aufwacht. Die Ärzte konnten noch keine Prognose geben wie es mit ihm aussieht. Wenn er aufwacht, war es nicht auszuschließen, dass er bleibende Schäden davonträgt. Vielleicht würde er nie wieder laufen oder sprechen können. Vielleicht wird er gelähmt sein, vielleicht wird er ein Pflegefall werden, vielleicht wird er sterben...
Vielleicht ging aber auch alles gut.
"Du darfst nicht gehen, okay?", flüsterte ich ihm zu. "Ich brauche dich doch..."
Ich schluckte die Tränen runter, strich beruhigend durch seine Haare und schaute ihn noch einen Moment an.
Mittlerweile hatte ich mich an die ganzen Schläuchen an seinem Körper gewöhnt. Es war nun 19 Uhr und so langsam sollte ich los, damit ich die Pflege nicht weiter nerve.
Zuhause versuchte ich es mir nicht anmerken zu lassen wie sehr mich Marlons Zustand mitnahm. Natürlich wussten Steve und Mom, dass Marlon und ich uns mittlerweile gut verstanden und ich mir Sorgen um ihn machte. Doch sie sollten trotzdem nicht wissen wie viel er mir eigentlich bedeutete.
Ich zwang mich etwas zu Essen und ging dann sofort in mein Bett. Kroch unter die Decke und starrte an die Wand. So wie ich es im Moment jeden Tag tat. Nach der Schule ging ich sofort ins Krankenhaus. In der Schule konnte ich mich gar nicht konzentrieren und wurde heute frühzeitig nach Hause geschickt, weil ich krank aussah. Und so fühlte ich mich auch.
Der Schlafmangel machte sich trotzdem bemerkbar und so fielen mir die Augen zu.

(...)

Es klopfte an meiner Tür. Langsam wachte ich auf und rieb mir die Augen. Meine Mom streckte den Kopf rein. Sie sah verweint aus.
"Was ist los?"
Sofort erinnerte es mich an den Moment, als mein Vater verstorben war.
"Es tut mir so leid, Linus..."
Nein, sag es nicht. Sie darf es nicht sagen.
"Marlon..."
Nein!
Nein, nein, nein. Sprich es nicht aus. 
Bitte sag mir, dass er wach ist.
"Er hat es nicht geschafft."
Wieder fing sie an zu weinen und auch ich konnte meinen Tränen nicht zurückhalten.
Moms Weinen verwandelte sich plötzlich in ein Lachen, weswegen ich sie erschrocken ansah.
Sie nahm ihre Hände vom Gesicht und schaute mich mit einem breiten Grinsen an.
"Scheiße, was? Jeden den du liebst, wird dir genommen. Du hast es nicht anders verdient!"

(...)

Mit rasendem Herzen wachte ich auf und drohte zu ersticken. Schweiß lief mir über den Rücken und übers Gesicht. Ich versuchte durchzuatmen, doch es gelang mir nicht. 
Ich ersticke.
Ich ersticke.
Ich ersticke.
Meine Hände zitterten, während ich meine Arme kratzte. 
Er darf nicht sterben. Er muss wach bleiben. Er muss bei mir bleiben.
Er darf nicht gehen.
Bitte nicht.
Bitte, bitte, bitte...
Langsam spürte ich wie ich wieder Luft bekam. Nicht viel, aber zumindest ein wenig. Meine Arme fingen an zu bluten. Das beruhigte mich auf eine komische Art und Weise. Meine Panikattacke ebbte langsam ab. Und als ich auf die Uhr schaute sah ich, dass mein Wecker gleich sowieso klingeln würde. Deswegen zwang ich mich hoch und nahm eine eiskalte Dusche. 
Innerlich betete ich, dass mich diese Albträume nicht mehr aufsuchen werden.

(...)

Aber das taten sie und sie wurden immer schlimmer. Ich wachte mindestens einmal in der Nacht auf und hatte eine Panikattacke. Manchmal schlich ich mich in Marlons Zimmer, legte mich in sein Bett und weinte leise. Ich hatte Angst zu schlafen, tat dies nur noch, wenn mein Körper mich dazu zwang. Meine Mom dachte, dass ich mir irgendwas eingefangen habe, weil ich so fertig aussehe. Und so ließ sie mich diese Woche zuhause.
Meine Noten wurden wieder schlechter und mein Lehrer sagte mir, dass ich diesen Weg nicht wieder einschlagen soll. Denn wenn ich jetzt wieder schlechter werde, werde ich die Klasse wiederholen müssen.
Das war mir aber im Moment wirklich scheißegal. Ich hatte andere Probleme und am liebsten hätte ich dem Lehrer das auch so ins Gesicht gesagt. Aber ich ließ es bleiben, denn dafür hatte ich keine Kraft.
Was meine Mutter anging, war es die schlechteste Idee mich zuhause zu lassen, denn so wurden meine Panikattacken nur schlimmer, da ich nicht mehr abgelenkt war. Ich war den ganzen Vormittag mit meinen Gedanken alleine. Und ich merkte wie auch meine Halluzinationen zurückkamen. 
Ich versuchte Joggen zu gehen um den Kopf freizubekommen, doch ich hatte einfach keine Kraft dafür. Das einzige was mir half war das Kiffen.
Marlon hat mir gesagt, dass ich nicht mehr kiffen soll, aber es war das einzige was mir kurzzeitig half. Und so drehte ich mir den ersten Joint, wenn alle außer Haus waren und den zweiten, wenn alle schliefen.
Ich saß auf dem Balkon, schaute dem Sonnenaufgang entgegen und zog an dem Joint.
David hatte mich angerufen, weil ich in Marlons Notfallkontakten stand. Das war irgendwie süß und ich sollte ihn auch als meinen Notfallkontakt einspeichern. Noch auf dem Weg ins Krankenhaus, habe ich sofort Steve angerufen.
Es klingelte an der Tür. Ich nahm den letzten Zug vom Joint und trottete nach unten. Ich sah nur im Augenwinkel wie sich jemand von der Tür entfernte und ins Haus trat.
War doch noch jemand zuhause?
Als ich das Ende der Treppe erreichte sah ich die Gestalt ins Wohnzimmer gehen. Ich ging ihm hinterher und blieb im Türrahmen stehen, als ich sah wer dort war.
"Marlon?"
"Hey, Süßer."
"Was machst du hier?"
"Ich dachte ich komme dich mal besuchen."
"Du bist aus dem Krankenhaus raus?"
"Ja, kann man so sagen. Ich hab dir jemanden mitgebracht."
Ich drehte mich um und sah meine Dad hinter mir stehen.
"Dad? Du..."
"Ich bin auch aus dem Krankenhaus raus."
"Was machst du hier?"
"Ich wollte dir nur sagen, dass ich Marlon mitnehmen werde."
"Mitnehmen? Wohin?"
"Na mit mir. Da wo alle hingehen, die sterben."
"Nein, Marlon." Ich drehte mich wieder zu ihm um. "Du darfst nicht sterben."
"Doch, Linus. Ich werde auch gehen."
"Aber... Bitte bleib bei mir."
"Linus, Linus, Linus.", sagte mein Dad und lief an mir vorbei zu Marlon. "Du hast es immer noch nicht verstanden oder? Dir ist es nicht gegönnt glücklich zu sein. Du wirst für immer alleine bleiben. Jeder wird dich verlassen."
"Nein, bitte nicht!"
Mein ganzer Körper fing an zu zittern. "Lass ihn bei mir!"
"Ich will nicht bei dir bleiben.", sagte Marlon.
"Bitte!", weinte ich. Meine Knie waren weich, sodass ich auf dem Boden zusammensackte.
Unter Tränen schaute ich zu Dad und Marlon hoch.
"Genieß dein Leben. Ganz alleine.", meinte Marlon lachend.
"Wenn du das nicht willst, musst du mit uns kommen.", sagte Dad.
"Wie...?"
"Sei nicht dumm.", sagte Marlon. "Du weißt wie."
Ihre Silhouetten verblassten langsam.
"NEIN!", schrie ich. "NEIN! BLEIBT HIER!"
Mit ihnen gehen...
Mich umbringen...
War das vielleicht die bessere Lösung?

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⏰ Letzte Aktualisierung: 9 hours ago ⏰

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