Seltsamerweise habe ich überhaupt keine Angst. Vielleicht liegt das am Schock? Ich bleibe einfach hinter der Säule sitzen, während alle anderen Schüler durch die Gegend rennen, auf der Suche nach einem Versteck. Plötzlich höre ich einen Schuss. Ein Schrei. In unmittelbarer Nähe. Scheiße! Ich stehe auf, um zu sehen, was los ist. Vorsichtig spähe ich um die Säule herum. Niemand zu sehen. Mit niemand meine ich, dass ich den Amokläufer nicht sehe. Aber eine Person sitzt im Foyer auf dem Boden und lehnt an der Wand. Lorent. Ich laufe zu ihm. In diesem Moment ist es mir egal, ob ich jetzt erschossen werde. Ich muss ihn sehen. Hoffentlich ist er noch am Leben. Ich knie mich zu ihm. Er hat die Augen geschlossen. Am linken Ärmel ist sein T-shirt voller Blut. Ich versuche vorsichtig den Ärmel hochzuschieben, um zu sehen, wie schlimm es um ihn steht. Er stöhnt vor Schmerzen und schlägt die Augen auf. Ganz kurz schaut er mich an, dann fallen seine Augen wieder zu. Ich schaue mir die Wunde genauer an. Glück gehabt. Es scheint nur ein Streifschuss gewesen zu sein. "Lorent halte durch. Ich rufe einen Krankenwagen." Ich hole mein Handy heraus, tippe die Nummer ein und warte. "Ja, Hallo. Kommen Sie schnell zum Karl-Friedrich-Gymnasium. Hier ist ein Amokläufer. Ja, es ist eine Schussverletzung. Ich glaube ein Streifschuss, mein Mitschüler verliert immer mehr Blut. Nein, ich kann keinen Druckverband anlegen. Er liegt im Foyer der Schule. Roonstraße 4 ist die Adresse." Ich lege auf. Hoffentlich habe ich nichts Wichtiges vergessen. Lorent öffnet noch einmal seine Augen. "Geh weg. Versteck dich." Er schaut mich eindringlich an. "Nein. Ich bleibe. Und du musst wach bleiben. Lorent, rede mit mir." Es fließt immer mehr Blut aus der Wunde. Ich muss irgendetwas draufdrücken. Ich nehme Lorents Tasche und schaue, ob ein Pullover drin ist. Kein Pullover, aber ein Schal. Ich nehme ihn und schiebe dann vorsichtig Lorents Ärmel hoch. "Ahhh...", stöhnt Lorent. Wieder öffnet er kurz die Augen. Seine Lider flattern, dann fallen sie wieder zu. Ich nehme den Schal, wickle ihn um Lorents Arm und verknote die Enden miteinander. Dann setze ich mich neben Lorent. Mir ist klar, dass wir hier völlig ungeschützt sind, wenn der Amokläufer zurück kommt, haben wir keine Chance. Aber ich will nur eine kurze Pause, bevor ich Lorent dazu auffordere, von hier wegzugehen. Ich schließe die Augen. Nur ganz kurz...
"Aufstehen." sagt eine herrische Stimme. Ich öffne die Augen. Zum zweiten Mal in meinem Leben starre ich in die Mündung einer Pistole.Xxx
Der Mann hinter der Pistole hat eine schwarze Strumpfmaske auf. Lorent hat die Augen immer noch geschlossen. "Los steht auf!", befiehlt er wieder. "Bitte.", sage ich."Lassen Sie ihn in Ruhe. Er ist verletzt. Es ist mir egal, was Sie mir antun, aber Sie dürfen ihm nichts antun." Erst jetzt scheint der Amokläufer das Blut auf Lorents T-Shirt wahrzunehmen. "Shit!", ist alles, was er dazu sagt. "Beide aufstehen.", meint er dann barsch. Ich erhebe mich, auch Lorent steht langsam auf. Ich sehe ihm an, dass er große Schmerzen haben muss. "Ihr kommt mit mir. Ich werde für euch wohl ein hübsches Lösegeld verlangen." Jetzt höre ich leise Sirenen. Der Krankenwagen. Er kommt zu spät. "Scheiße! Wer hat nur die Bullen gerufen?" - "Das ist ein Krankenwagen. Für ihn. Ich habe ihn gerufen.", sage ich trotzig. Ich weiß nicht woher ich den Mut nehme, einem Mann, der eine Pistole auf mich richtet, mit Trotz zu begegnen. "Da sind auch Bullen dabei. Das hört man doch!" Ich schüttele nur den Kopf. Ich habe den Unterschied im Sirenenton noch nie gehört. "Komm her zu mir. Ich werde dir jetzt die Pistole an den Kopf halten. Wenn du oder dein Freund hier keine Dummheiten macht, passiert dir nichts." Ich nicke stumm. Er drückt mir die Pistole an den Kopf und legt Lorent eine Hand auf die (gesunde) Schulter. So gehen wir rückwärts Richtung Treppenhaus. Vier Polizisten kommen durch die Tür. Als sie uns sehen, reißen sie erschrocken die Augen auf und bleiben stehen. "Zurück!", knurrt der Amokläufer. Sie weichen zurück. Nur ein etwas älterer Polizist bleibt stehen und sagt: "Lassen Sie wenigstens den Jungen gehen. Er ist verletzt und braucht medizinische Versorgung." - "Die bekommt er auch.", ist die Antwort. Er läuft weiter zurück, bis zur Treppe.
"Verlasst das Gebäude!", raunzt er die Polizisten an. Sie verlassen, langsam rückwärts gehend die Schule, tun brav, was sie sollen. "So. Wir gehen nach oben, in ein Zimmer, von dem aus ich die Straße im Auge behalten kann", teilt er uns mit.Es ist seltsam still in der Schule. Als stünde sie leer. Dabei versteckte sich vermutlich hinter jeder Zimmertür eine komplette Schulklasse.
Wir verschanzen uns schließlich in einem Zimmer im ersten Stock, der Mann mit der Strumpfmaske befiehlt uns, uns in eine Ecke zu setzen und die Klappe zu halten. Dann greift er zu seinem Handy und beginnt zu telefonieren. Er redet leise, sodass ich nicht verstehen kann, was er sagt.
Ich will nach Lorents Wunde sehen, doch der entzieht mir seinen Arm.
Der Amokläufer, wobei man ihn nicht wirklich so nennen kann, schließlich hat er niemanden er-, lediglich einen angeschossen, beendet sein Telefonat und kommt zu uns rüber. "Eure Telefone!", raunzt er, die Pistole auf uns gehalten. Ich nehme mein Handy aus der Tasche und halte es ihm hin. "Auf den Boden legen und rüberschieben." Ich lege es also auf den Boden und stoße es zu dem Mann. "Du auch!" Er meint Lorent. Doch Lorent reagiert nicht. Er hat die Augen geschlossen. "Lorent. Dein Handy.", versuche ich es. Keine Reaktion. "Hast du es dabei?" Er nickt träge. "In deiner Tasche?" Wieder ein langsames Nicken. "Gibst du es mir?" Er versucht den gesunden Arm zu heben, doch lässt es gleich wieder bleiben. "Ich kann mich nicht bewegen.", flüstert er leise. Seine Augen sind weiterhin geschlossen. Ich greife kurzerhand in Lorents Hosentasche. Der Amokläufer wartet, bis ich ihm das Handy ebenfalls zugestoßen habe, dann bückt er sich und hebt beide Mobiltelefone auf. "Er muss medizinisch versorgt werden.", fordere ich wieder. "Ich weiß.", knurrt der Amokläufer. "Was denkst du, warum ich telefoniert habe? Ein Freund wird kommen und ihn verarzten." Ich nicke. Noch immer zeigt die Pistole auf uns. "Ok. Geh weg von ihm. Ich werde dich fesseln. Wenn du Anstalten machst, wegzulaufen, erschießen ich ihn oder dich. Verstanden?" Ich nicke. Ich habe Angst. Furchtbare Angst. Was, wenn ich hier sterbe? Was wenn Lorent stirbt? Was wenn wir beide sterben? Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich steifen Schrittes der Aufforderung des Amokläufers folge. Aber ich versuche die Angst so weit als möglich zur Seite zu schieben. "Leg dich auf den Boden, die Hände nach vorn gestreckt." Er fischt einen Kabelbinder aus seiner Jackentasche und fesselt meine Hände ziemlich fest. Das wiederholt er bei den Füßen. "Bleib hier.", weist er mich an. Ich kann mich aber sowieso kaum bewegen. Der Amokläufer fesselt Lorents Beine aneinander, die Hände lässt er ungebunden. Er läuft erneut zu mir und reißt mich unsanft hoch. Mit kleinen Schritten kehre ich zu Lorent zurück. Ich setze mich neben ihn und lehne mich an die Wand. Der Amokläufer läuft zur gegenüberliegenden Wand und setzt sich dort hin, die Pistole locker in der Hand. "Ich habe Anst.", wimmert Lorent. "Ich will nicht sterben." Ich sehe zu ihm. Sein Gesicht ist tränenüberströmt. Vorsichtig lege ich meine Hand auf seinen unverletzten Arm. "Wir werden nicht sterben. Wir kommen hier wieder raus." Halb sage ich diese Worte um ihn zu trösten, halb um mich selbst davon zu überzeugen, dass wir hier wieder rauskommen. "Was wenn er nochmal auf mich schießt? Was wenn ich verblute?" Ich bezweifle, dass der Amokläufer einfach nur so erneut auf Lorent schießen würde. Aber an der zweiten Befürchtung konnte durchaus etwas Wahres dran sein. Sein Schal, den ich ihm umgebunden habe ist bereits blutdurchtränkt. Ich will ihn trösten, aber mir fallen keine passenden Worte ein. Und so sitzen wir schweigend, Lorent und ich auf der einen, der Amokläufer auf der anderen Seite des Zimmers.
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Mein Leben - schlimmer als ein Alptraum
Ficção AdolescenteEmma wurde schon einmal mit einer Pistole bedroht. Das ist nichts Positives, aber es macht sie dennoch zu etwas Besonderem. Emma glaubt außerdem, dass ihr jetzt nichts Schlimmes mehr passieren kann. Als allerdings ein Amokläufer an ihre Schule kommt...