Es verging genau eine Stunde und fünfzehn Minuten, die ich im ersten Unterricht des Tages damit zubrachte, auf den breiten Rücken von Alec zu starren. Mir war es vorher noch nie so wirklich aufgefallen, aber der Idiot saß tatsächlich direkt vor mir in meinem Mathematikkurs. Ich hatte mich wie so oft, in die letzte Reihe verabschiedet und saß nun neben einem Mädchen namens Elena, die zwar ab und an mit Marie rum hing, aber zumindest bei Partnerarbeiten immer nett zu mir war.
Doch heute verbrachte ich keine Sekunde damit, mich über ihre Nettigkeit zu wundern und ich folgte auch in keiner Weise dem Unterricht, stattdessen sah ich auf den breiten Rücken vor mir. Wieso hatte der Idiot mich vorhin so gemein auflaufen lassen, hatte absichtlich all die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt?
Ich steckte gerade in meinen Gedanken und mahlte mir die verrücktesten Geschichten aus, die dem Idioten zu dem gemacht hatten, was er war, als Elena mich mit ihrem Ellenbogen an stupste und mit dem Kopf nach vorne deutete. „Da ich ja jetzt endlich die volle Aufmerksamkeit von allen von Ihnen genießen darf", sagte Anton Riese, mein merkwürdiger Lehrer, den alle nur freundlicherweise „Affe auf Droge" nannten, mit dem Blick auf mich gerichtet. Offenbar hatte ich auffällig nicht aufgepasst. Seinen Spitznamen hatte der Mann durch sein ungepflegtes Äußeres erhalten, überall an seinem Körper wucherten so viele Haare, dass es wirklich unappetitlich aussah und er schien sich als einziger nicht daran zu stören. Vermutlich hätte man ihn in der Arktis aussetzen können und alle hätten ihm mit dem Yeti verwechselt, doch leider befand sich dieser Mann nicht im Norden der Erde, sondern in dieser Schule und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mir immer wieder einen reinzuwürgen. Genau wie jetzt. Er wusste, dass ich die ganze Aufmerksamkeit nicht gut ab konnte, doch trotzdem stellte er mich vor der ganzen Klasse bloß. Er fuhr fort, bevor ich etwas erwidern konnte: „möchte ich Ihnen auftragen in Partnerarbeit eine Lösung für das Problem an der Tafel auszuarbeiten." Er deutete auf die grüne Tafel, auf die er tatsächlich eine Formel geschrieben hatte, die vermutlich mehr Buchstaben als Zahlen enthielt. Ich verstand natürlich wieder einmal gar nichts, doch Elena war relativ gut in dem Zeug, daher machte ich mir wenig Sorgen. Wir sahen uns an und nickten gleichzeitig – es war beschlossen: Wir beide würden die Aufgabe zusammen lösen.
Doch dazu kam es nicht, denn noch bevor ich meinen Kugelschreiber zum Blatt führen konnte, versperrte eine Gestalt das ganze Licht, das aus dem Fenster zu uns schien. „Wir machen das zusammen.", ertönte seine dunkle Stimme und jagte mir einen Schauer über den Rücken.
„Vergiss es.", sagte ich mit möglichst stark klingender Stimme und schaute den Jungen nicht an. Er sollte einfach verschwinden. Doch offenbar hatte Alec Pecht andere Pläne, denn er nahm sich seinen Stuhl und drehte ihn so, dass er mir gegenüber saß und uns nur ein kleiner Tisch trennte. Mir gefiel diese Nähe überhaupt nicht.
„Hau ab.", zischte er leise zu Elena, die sich zu meiner Überraschung sofort erhob und so hektisch das Weite suchte, dass ihr Stuhl dabei lautstark zu Boden polterte. Ich konnte nicht anders, ich starrte ihr entgeistert hinterher. Wieso hatten alle so viel Angst vor dem Typen?! Als ich aufsah erkannte ich ein paar Wunden in seinem Gesicht, die ich heute Morgen aus der Ferne nicht ganz ausmachen konnte. Sein rechtes Auge unterlag einem so dunklen Blau, dass es beinahe aufgemalt wirkte und seine Unterlippe war leicht aufgeplatzt. War das, was Elena zur Flucht getrieben hatte? Auf mich wirkte es jedoch eher armselig, denn es bedeutete, dass er sich mal wieder mit irgendjemandem geprügelt hatte.
„Was willst du?", fragte ich genervt und brauchte mir nicht einmal mehr Mühe zu geben, stark zu klingen, denn in diesem Fall war ich wirklich stark. Solange die Person keine Wasserstoffblonden Haare hatte und unglaublich hohe Schuhe trug, konnte ich keine Angst fühlen. Vielleicht lag es daran, dass all meine Kraft bei Marie verbraucht wurde, oder ich war einfach nicht ganz richtig im Kopf, aber in diesem Augenblick kam mir die Eigenschaft zu gute.
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Wer nicht kämpft, hat schon verloren
Teen FictionSamantha kann eine Sache besonders gut: Ihre Gefühle verstecken. Wie soll sie auch sonst mit den Schikanen in der Schule fertig werden? Doch das ändert nichts daran, dass sie alleine ist und niemanden hat, an den sie sich wenden kann. Irgendwann tri...