3. Kapitel

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Die merkwürdige und verstörende Begegnung mit Alec war nun schon zwei Tage her und in meinem Kopf weit in Vergessenheit geraten. Der Typ, der Leute krankenhausreif schlug, sobald sie ihm einen falschen Blick zuwarfen, war nicht die Person die mir so große Angst bescherte, dass ich die gesamte Nacht auf Montag kein Auge zudrücken konnte. Die Person, die meinen ganzen Körper in Panik versetzen konnte, war ein Mädchen, das einen halben Kopf kleiner war als ich. Marie – sie hatte es nach der Aktion mit dem Bild wirklich geschafft: Ich hatte panische Angst vor ihr.

An diesem Morgen übergab ich mich zwei Mal und konnte mich nur mit viel Disziplin fertig für die Schule machen. Ich band meine rotblonden Haare wie gewöhnlich zu einem hohen Pferdeschwanz und tauchte meine Wimpern sogar in einen Hauch Mascara – ich wollte mir nicht die Blöße geben und mich verletzlich zeigen, schließlich hatte ich das letzte Woche schon genug getan.

Ein letzter Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich immer noch nicht völlig gesund aussah, doch dagegen konnte ich nicht viel tun. Vermutlich hätte ich etwas Nahrung zu mir nehmen sollen, schließlich befand sich in meinem Magen inzwischen nicht mehr, als gähnende Leere die ein flaues Gefühl in mir verursachte, doch ich wollte keine weiteren Minuten riskieren, die ich kotzend über dem Klo verbringen könnte. Außerdem musste ich pünktlich zum Unterricht erscheinen, um nicht schon wieder besonders aufzufallen. Kam man zu spät, starrten einen alle an und das konnte ich mir nicht schon zum Start der Woche erlauben, dafür kannten mich die meisten schon zu gut. Ich war das Mädchen, mit den schwulen Vätern, das adoptiert war und einen hochbegabten Zwillingsbruder hatte, aber selber nur mittelmäßige Noten zustande brachte, das Mädchen, das seit neustem auf einem Bild ziemlich freizügig zu sehen war, das in der ganzen Oberstufe die Runde machte. Mich kannten die Leute schon genug und ich hasste diese Aufmerksamkeit.

„Ich finde es toll, dass du mich wieder begleitest.", flötete mein kleiner Bruder heiter vor sich her, während er seine Arme so hoch in die Luft schwang, dass ich befürchtete, sie würden sich von seinem Körper lösen. „Die letzten Tage war der Weg so langweilig, ich würde ja mit Emma zusammen gehen, aber sie sagt mir nicht, wo genau sie wohnt. Hat ihr Bruder etwas erwähnt, als er sie abgeholt hat? Du kanntest ihn doch, oder Sam? Ach ist ja auch egal, vermutlich wohnt sie einfach nur zu weit weg."

Ich antwortete nicht, was sollte ich auch sagen? Ich habe wirklich keine Lust immer noch mit dir zusammen zur Schule zu laufen, du bist schließlich alt genug, alleine den Weg zu finden?! Oder: Sei endlich still, ich habe ganz andere Probleme?! Nein, das konnte ich definitiv nicht laut aussprechen, daher war es besser einfach gar nichts zu sagen.

Unser Schulweg war nicht wirklich weit, daher kamen wir beide ziemlich zügig an der Schule an, doch Elias schien einen Moment länger bei mir stehen zu bleiben, als gewöhnlich. Schaute er sich tatsächlich gerade um? Seine braunen Rehaugen schienen nach etwas Ausschau zu halten, aber sie sahen nicht gerade freudig aus. Ich runzelte meine Stirn ein wenig, doch der besorgte Gesichtsausdruck meines Bruders änderte sich schlagartig, als er sich wieder mir zuwendete.

„Bis nachher.", meinte er plötzlich wieder fröhlich, als wäre nichts passiert und verschwand wenig später auch schon hinter der nächsten Ecke die zum Gebäude der Fünft- bis Siebtklässler führte. Ich stattdessen blieb vor dem grauen Klotz, der mein heutiges Ziel darstellte, stehen und konnte nicht länger darüber nachdenken, warum Elias sich so komisch verhalten hatte. Meine Gedanken kreuzten sich nur um eines: War das Bild noch immer aktuell oder hatten sie inzwischen schon einen neuen Lacher gefunden?

Natürlich hatte all mein beten nichts geholfen – was hatte ich mir auch dabei gedacht?! – denn das Bild war noch genauso Aktuell, wie meine peinliche Reaktion darauf. Gerade ging eine kleine Gruppe an Schülern aus der Elften an mir vorbei und tuschelten leise miteinander, als ich sie entdeckte. Marie stand auf dem Schulhof. Sie war umzingelt von all ihren Freundinnen und ein paar männlichen Bewunderern, ich kam nicht drum herum die Gruppe anzustarren, als ich mich an ihr vorbei zu dem Eingang schleichen wollte.

Wer nicht kämpft, hat schon verlorenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt