Es verging eine Woche in der ich mich mehr oder weniger Tag für Tag aufs Neue aus dem Bett kämpfen musste, doch gleichzeitig verbrachte ich immer mehr Zeit mit Robin, der mich entweder auf einen Kaffee einlud, oder mich mit zu ihm nach Hause nahm. Zu mir gingen wir nie. Aber das war auch besser so, denn dort wartete nicht nur Paps, der mich sowieso schon mit Fragen löcherte, sondern auch Lucas, der die meiste Zeit des Tages zuhause hockte und in eins seiner Bücher vertieft war. Inzwischen musste mein Bruder einfach das Bild von mir nackt in der Umkleide, gesehen haben, doch er hatte mich nicht darauf angesprochen – im Grunde hatten wir gar nicht gesprochen.
„Hast du heute Nachmittag Zeit?", fragte ich Robin, als ich ihn in der Cafeteria stehen sah – offenbar wartete er auf jemanden.
Der Junge, mit dem ich inzwischen die meiste Zeit meines Tages verbrachte, fuhr sich etwas verunsichert durch die wunderschönen braunen Haare. „Tut mir leid", sagte er ruhig, blieb aber auf Abstand. Sein Blick schien durch die große Halle zu fahren, ehe er sich wieder mir zuwandte. „aber ich kann nicht. Ich gehe nachher mit ein paar Kumpels was trinken." Enttäuscht nickte ich mit dem Kopf, natürlich hatte Robin noch andere Freunde, natürlich konnte er nicht die ganze Zeit für mich da sein, doch trotzdem schmerzte es ein bisschen, diese Tatsache so unter die Nase gerieben zu bekommen. Ich wusste, dass es lächerlich war, keine Freunde zu haben, doch in diesem Augenblick wurde ich nur noch einmal an meine schmerzliche Lage erinnert.
„Okay, dann ein anderes mal.", sagte ich und versuchte unbeteiligt zu klingen. Robin sollte nicht wissen, wie sehr ich mich schon an seine Nähe gewöhnt hatte, wie verletzlich ich inzwischen geworden bin.
Der Junge vor mir lächelte mir aufmunternd zu und versicherte mir, dass wir uns am kommenden Wochenende sehen würden, also machte ich kein großes Ding daraus. Er musste ja nicht immer wissen, wie es in mir aussah. Ich hatte ihm schon viel zu oft meine ganzen Gefühle offenbart.
Ich kreuzte langsam durch die vielen Gruppentische, an denen bestimmt hundert Schüler ihre Pause verbrachten und suchte unterbewusst, nach meinem Bruder. Trotz seiner kurzen Zeit die er erst hier war, hatte er schon eine Gruppe von Leuten gefunden, mit denen er immer herum hing. Ich beobachtete ihn oft in den Pausen, doch an diesem Tag konnte ich zwar seine Freunde ausfindig machen, doch mein Bruder saß nicht bei ihnen.
„Hey Leute!", hörte ich auf einmal einen Jungen aus der Zehnten rufen, ich kannte ihn nicht, doch seine Wangen waren so auffällig gerötet, dass ich genau wusste, dass er einen Sprint hinter sich hatte. Was war los? „Aggro-Alec schlägt wieder zu!", rief er und rannte zurück in Richtung Schulhof. Während ich angewurzelt da stand und überlegte, was seine Worte bedeuten konnten, waren ein paar Dutzende Schüler aufgesprungen und dem Jungen gefolgt. Niemand von ihnen wollte das Spektakel verpassen.
Lucas! Es hatte ein bisschen gedauert, doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen – mein Bruder hatte sich schon einmal beinahe mit Alec geprügelt und er war nicht in der Cafeteria gewesen.
Als ich auf den Schulhof trat, hatte sich eine Traube aus Jugendlichen gebildet, die alle einen Blick auf die beiden Streithähne werfen wollten, die sich gerade bekämpften. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und erkannte das gleiche, ausgefallene rot-blond das auch meinen Kopf zierte – es war tatsächlich Lucas!
Zusammen mit dem Beweis hörte ich einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem Keuchen, das ich keinem Zuordnen konnte. Kam es von Lucas? Oder doch von Alec? Konnte mein Bruder eine Chance gegen Aggro-Alec haben, der Leute am Laufband krankenhausreif schlug? Oder machte Alec ihn genauso fertig, wie seine anderen Opfer?
Ich konnte es nicht mehr mit anhören, ohne genau zu sehen, was vor sich ging und drängte mich energisch durch den großen Kreis aus Schülern. Zum ersten Mal war ich erleichtert darüber, keins dieser zierlichen Dinger zu sein, die beinahe schon im Sturm wegwehten, denn dadurch hatte ich tatsächlich die Chance mich bis in die erste Reihe vorzuschlagen.
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Wer nicht kämpft, hat schon verloren
Ficção AdolescenteSamantha kann eine Sache besonders gut: Ihre Gefühle verstecken. Wie soll sie auch sonst mit den Schikanen in der Schule fertig werden? Doch das ändert nichts daran, dass sie alleine ist und niemanden hat, an den sie sich wenden kann. Irgendwann tri...