„Hast du heute Abend zufällig Zeit?", fragte ich Becks am Freitag, während ich neben ihr an der Bar saß – das Café war wie die meiste Zeit ziemlich leer, also konnten wir reden.
„Grundsätzlich schon. Ich muss zwar noch bis neun arbeiten, aber danach habe ich Zeit, wieso?" Ich hatte schon seit mindestens zwanzig Minuten mit mir selbst gerungen, ob ich sie überhaupt fragen sollte. Es war mein Geburtstag und ich musste zuhause sein, um gemeinsam mit meinem Zwilling eine Party zu feiern, die nur einem von uns gefiel. Ich konnte nicht darüber entscheiden, ob ich versuchen sollte mir den Abend mit Becks zu verschönern, oder mich nicht doch lieber die ganze Zeit in mein Zimmer einschließen wollte. Im Endeffekt entschied ich mich dann doch für die erste Variante und zwang mich, die Frage laut aus zu sprechen.
„Lucas feiert heute seine Geburtstagsparty und da ich dadurch auch Geburtstag habe, muss ich ebenfalls da sein. Ich dachte, vielleicht könntest du auch kommen.", stammelte ich leise und sah unsicher auf meine Hände. Was, wenn sie keine Lust hatte? Becks war schließlich schon zwanzig – vermutlich hatte sie besseres zu tun, als mit einem Haufen betrunkener Teenager ab zu hängen. Zu meiner Überraschung tat Becks etwas, das vollkommen untypisch für die Verrückte war: Sie blieb stumm und starrte mich einfach nur mit großen Augen an.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich mir am liebsten selbst für meine Frage in den Hintern gebissen hätte, sprang sie schlagartig von ihrem Stuhl auf und umarmte mich stürmisch. „Du wirst achtzehn und erzählst mir nichts davon?! Happy Birthday Süße!" Ich erwiderte ihre Umarmung, um nicht vom Barhocker zu fallen, doch ich konnte nicht verstehen was gerade los war. Normalerweise gratulierte mir niemand außerhalb meiner Familie und eine Antwort auf meine Frage hatte ich auch immer noch nicht erhalten.
Als hätte sie meine Gedanken erraten, ließ mich meine einzige Freundin los und sah mir in die Augen. Ihre Hände lagen noch immer auf meinen Schultern: „Aber natürlich komme ich! Das wird sicher cool, außerdem werde ich so Lucas zu Gesicht bekommen – dann habe ich endlich ein Bild im Kopf, wenn du mir wieder einmal was von deinem bescheuerten Bruder erzählst." Sie lachte und langsam konnte ich mich wieder entspannen. Becks würde vorbei kommen. Es kam tatsächlich jemand, der mich und nicht meinen Bruder an meinem Geburtstag sehen wollte. Ich wusste, dass es komisch war, dass mich ihre bevorstehende Anwesenheit so sehr freute, aber sie verriet mir einfach, dass ich in Becks eine Richtige Freundin gefunden hatte. Eine Freundin, die mir helfen würde, den Abend zu überstehen.
Als am Abend das erste Mal die Tür klingelte, zuckte ich zusammen. Es konnte noch nicht Becks sein, sie würde erst später kommen, daher musste es unausweichlich jemand von Lucas Freunden sein, die mir allesamt Angst machten. Sollte ich ebenfalls runter gehen? Nein, das wäre vermutlich keine gute Idee. Aber woher wusste ich dann, wann Becks da sein würde? So wie ich sie kannte, würde sie unten neue Bekanntschaften machen und einfach so lange dort sitzen bleiben, bis ich herunter kam. Also machte ich mich irgendwann schweren Herzens auf den Weg ins Wohnzimmer, aus dem schon die ganze Zeit laute Musik dröhnte.
„Sam!", rief Lucas sofort und zog damit jegliche Aufmerksamkeit auf mich. Es würde wohl keine große Party werden, sondern nur etwa zehn seiner Freunde, die sich alle gemütlich unterhielten und dabei ihren Alkoholpegel steigerten. Es schien so, als hätten alle schon ein paar Gläser des puren Giftes in sich, das einen alle Hemmungen verlieren ließ, denn sobald ich den Raum betrat und mein Bruder auf mich aufmerksam wurde, zog er mich in seine Arme.
Sofort wurde ich stocksteif, ich wollte nicht von ihm umarmt werden. Ich wollte Lucas nicht so nah sein und ich wollte definitiv nicht so tun, als würden wir uns super verstehen. Also drückte ich meinen Bruder unsanft von mir, sodass ich endlich wieder atmen konnte. Ein Junge mit einer Bierflasche in der Hand fing an zu lachen: „Man Alter, das ich das noch erlebe: Sie ist wohl das einzige Mädchen, dass nicht in deiner Nähe sein will." Vielleicht hatte er keine Ahnung wer ich war, oder es war ihm einfach egal, aber seine Worte regten mich auf: „Halt die Klappe.", zischte ich ausgerechnet in dem Moment, als Marie die exakt gleichen Worte an den exakt gleichen Typen gerichtet hatte. Konnte das alles noch schlimmer werden? Ihr Blick wanderte zu mir und ich wurde rot, ich wollte definitiv nicht Maries Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Eigentlich wollte ich nur auf meinen einzigen Gast warten.
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Wer nicht kämpft, hat schon verloren
Teen FictionSamantha kann eine Sache besonders gut: Ihre Gefühle verstecken. Wie soll sie auch sonst mit den Schikanen in der Schule fertig werden? Doch das ändert nichts daran, dass sie alleine ist und niemanden hat, an den sie sich wenden kann. Irgendwann tri...