39. Kapite

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Ich sah nichts mehr. Meine Tränen verschlossen meine Augen und hinderten mich daran, einen klaren Blick zu bewahren. Stattdessen spürte ich die Rasierklinge schwer in meiner Hand. Ich wusste genau, was gleich passieren würde, wusste genau, was ich mir antun würde. Schließlich hatte ich das schon oft getan, so oft, dass ich aufgehört hatte zu zählen.

Meine Gedanken wanderten wieder zur Schule und zu Marie, die mir mal wieder mit ihren Freundinnen aufgelauert hatte. „Du bist ein Nichts.", hatte sie mir ins Gesicht geschrien, als ich es gewagt hatte, meine Worte gegen sie zu erheben. „Keiner mag dich, du bist ein fetter Freak. Ein Niemand, genauso lästig wie ein Kaugummi unter einem Schuh." Ich erinnerte mich an jedes ihrer Worte, doch das schlimmste war das, was danach folgte. Denn zwei ihrer Freundinnen hatten mich festgehalten und dafür gesorgt, dass ich dem Teufel völlig wehrlos ausgeliefert war. Ich konnte nichts tun, mich nicht wehren – fühlte mich hilflos. War das mein Schicksal? Würde mein Leben wirklich für die nächsten Jahre genau so ablaufen? Würde Marie jemals genug davon haben, mich zu schikanieren? Würde ich irgendwann den Mut finden, es ihr heim zu zahlen?

Ich stellte mir vor, wie dafür sorgte, dass sie blutete, während ich die Klinge in meiner Hand langsam in mein eigenes fettes Fleisch stieß und eine tiefe Linie auf meinem breiten Oberschenkel zeichnete. Ich stellte mir vor, es wäre ihr Blut und nicht meines, während ich wieder und wieder zu stach. Ich stellte mir vor, dass sie es war, die die Schmerzen spürte, während meine eigenen genauso langsam verblassten, wie meine Gedanken. Alles verschmolz zu einem Nebel, der mich von der Außenwelt abschottete. Zu einem Nebel, der mich von der bösen Welt beschützte.

Ich merkte kaum, wie das Blut an meinen Beinen herunter lief und sich mit meinen eigenen Tränen vermischte, die ich nicht wegen der körperlichen Schmerzen vergoss. Wie hatte ich es nur so weit kommen lassen können? Ein weiterer Schnitt. Wann würde alles endlich aufhören? Noch ein Schnitt. Ich hasste mein Leben, ich hasste mich. Hasste mich so dermaßen für mein schwaches verhalten. Ein Schluchzen verließ meine Kehle. Es sollte endlich aufhören. Ein letzter Schnitt. Die Rasierklinge fiel lautstark auf den Boden und ich tat es ihr gleich. Mein Blut verteilte sich auf dem weißen Fließboden, doch das störte mich nicht. Die Schmerzen waren das einzige, was mich von meinen Gedanken ablenkte. Sie waren das einzige, was mir half. Das Blut war das einzige, was mich lebendig fühlen ließ. Ich lebte und das konnte ich mir auf keine andere Art beweisen.

Mein Blick fiel auf die vielen Narben, die meinen Oberschenkel zierten. Ich konnte nicht mehr ungeschehen machen, was damals alles passiert war und wie schlecht es mir eine Zeit lang ging, doch Alecs Worte hallten immer wieder durch meinen Kopf. Er war so sauer auf mich gewesen, dabei hatte ich mir doch einfach nur Sorgen um ihn gemacht.

Als ich meinen Blick hob konnte ich meinen ganzen Körper erkennen und fühlte mich auf Anhieb noch erbärmlicher. Wieder einmal stand ich nur in Unterwäsche vor meinem Spiegel und betrachtete mich. Erkannte meine Fehler, die ich in den letzten Tagen manchmal sogar gänzlich vergessen hatte. Auf einmal wirkten die Narben noch viel stärker. Das letzte Mal, dass ich einen so starken Anfall hatte war inzwischen schon beinahe ein ganzes Jahr her und im Laufe der Zeit, hatte ich die Schnitte einfach aus meinem Gedächtnis verbannt. Zusammen mit Alecs Ausbruch, waren die Erinnerungen wieder gekehrt und schienen dieses Mal nicht so schnell verschwinden zu wollen.

Alles in mir schrie danach, wieder nach einer Rasierklinge in mein eigenes Fleisch zu stoßen, um wieder in den Genuss des Nebels zu gelangen. Ich wollte es so dringend, wollte all die Mühe, die es mich gekostet hatte, dem Drang ein ganzes Jahr zu wiederstehen, über den Haufen werfen und endlich wieder meine Gedanken los werden. Wollte mich auf eine Art lebendig fühlen, die ich nur auf diese Weise fühlen konnte.

Wer nicht kämpft, hat schon verlorenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt