"Hier", sagte Camille lächelnd und drückte Nick einen Teller mit Applepie in die Hand. Die Kaffeetasse stellte sie auf einen kleinen Tisch neben ihm. Er bedankte sich und ließ seinen Blick auf den Kuchen vor ihm fallen. Er glaubte keine Sekunde, dass Camille selber gebacken hatte.
Er sah auf, als er Annika lachen hörte. Sie saß auf der Armlehne des Sessels, in dem Peter zurückgelehnt schlängelte, und trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Sie hatte von dem Spaziergang noch gerötete Wangen und ihre Haare waren durch den Regen dunkler geworden. Ihre Augen strahlten im gemütlichen Licht des Kamins.
Er konnte es sich nicht erklären, aber irgendwie sah er sie jetzt mit anderen Augen. Er hatte sie immer als stark und furchtlos gesehen, als hätte sie sich selber und alles andere im Griff. Doch den ganzen Abend hatte sie völlig neben der Spur gewirkt. Sie hatte so heftig auf ihn reagiert, dass er sich schon fragte, ob er irgendetwas falsch gemacht hatte.
Natürlich musste er auch ehrlich gestehen, dass es ihn mehr als nur ein wenig amüsierte, dass er einen so großen Einfluss auf sie hatte. Wenn er seine Karten richtig spielte, könnte er sie damit ganz weit bringen.
Er nahm einen Bissen von seinem Applepie und dachte nach. Gerade eben wollte er Annika nirgendwo hin bringen. In diesem Moment schien der Handball komplett in den Hintergrund zu rücken.
Im Wald, als sie sich an ihn geklammert hatte ohne ein Wort zu sagen, hatte sein Beschützerinstinkt sich in vollem Maße ausgebreitet. Und wieso, das wusste er nicht einmal. Er war nicht dazu da Annika zu beschützen. Sie konnte sich selber beschützen. Das hatte sie auch vorher schon gesagt.
Genüsslich nahm er noch einen Bissen von dem Kuchen. So gut wie er schmeckte, wusste er einfach, dass er nicht von seiner Schwester stammte. Wieder fiel sein Blick auf Annika, die jetzt wie die Ruhe und Souveränität in Person dasaß. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle. Sie schaute durch den Raum und traf auf seinen Blick. Ihre Augen wirkten im spärlichen Licht schwarz. So unglaublich schwarz. Ein Kribbeln überfiel seine Haut und er schaute so ausdruckslos wie möglich zur Seite.
Nick hatte das Gefühl Annika jetzt besser zu kennen. Sie hatten sich unterhalten wie erwachsene Leute. Sie hatten sich nicht gestritten. Sie hatten einfach geredet. Sie hatte mit ihm geredet. Er hatte mit ihr geredet.
Und versucht die Spannung auszublenden, die wie der Schein der Fackel auf ihnen gelegen hatte. Er konnte es sich nicht erklären, aber irgendetwas war anders geworden. Als ob er eine andere Seite von Annika gesehen hatte, wodurch er sie jetzt... kannte. Sie würde wahrscheinlich behaupten, dass er nichts über sie wusste, was zum Teil auch stimmte. Aber er hatte jetzt das Gefühl sie zu kennen.
Er verdrängte das Gefühl.
Wenn er nicht aufpasste, würde es ihm schwer fallen objektiv zu bleiben, wenn er wieder als ihr Trainer fungierte. Hier in Schottland, weit weg von all den anderen im Team, war es egal. Er genoss es eigentlich entspannt Zeit mit Annika zu verbringen. Aber in der Schule würde es wieder anders sein. Es musste anders sein.
Camille kam und setzte sich neben Nick. Sie tätschelte ihm das Knie und lächelte ihn liebevoll an. Sie war vier Jahre älter als er und hatte sich immer wie eine Ersatzmutter verhalten. Das hatte sich nicht verändert, obwohl sie seit knapp einem Jahr verheiratet war.
"Der Applepie schmeckt fantastisch", sagte er an sie gewandt und grinste. "Wer hat ihn gemacht?"
Camille lachte und legte den Kopf in den Nacken. "Du hast mich also durchschaut", kicherte sie.
"Nein, ich kenne dich einfach zu gut", neckte er sie und nahm noch einen Bissen.
"Du musst Annika für den Kuchen loben, sie hat ihn gebacken." Sie grinste und schaute zu seiner talentiertesten Spielerin rüber. Er folgte ihrem Blick und versuchte diese neue Information zu verarbeiten. Wieder eine neue Seite von ihr.
Als hätte sie gespürt, dass man über sie sprach, hob sie den Blick und sah erst Nick, dann Camille an. Ein fragendes Lächeln huschte auf ihr Gesicht.
"Nick ist von deinem Applepie sehr angetan", sagte Camille durch den Raum und er hätte schwören können, dass Annikas Wangen einen Tick rötlicher wurden. Seine wahrscheinlich auch. Es war nicht gerade geplant, Annika davon in Kenntnis zu setzen, dass er einen ganzen Pie selber essen könnte.
"Freut mich", sagte sie leise und lächelte ihren Trainer sanft an. Er hielt ihren Blick einige Sekunden fest, stellte dann seinen Teller zur Seite und verließ den Raum. Ein Glas Wasser war genau das, was er jetzt brauchte. Es war nicht nötig dafür den Hausbutler zu rufen, das schaffte er auch ohne seine Hilfe.
In der Küche war nur ein kleines Licht an. Er schaute sich kurz um. Camille und Mike hatten die Küche vor nur wenigen Wochen einbauen lassen. Er freute sich für seine Schwester. Sie hatte den Mann, das Haus, ja das Leben bekommen, von dem sie immer geträumt hatte.
Er schaute in drei verschiedene Schränke, bevor er endlich die Gläser fand. Er nahm eins und ging damit zum Waschbecken, füllte es mit kaltem Wasser und trank. Seine Kehle war wie ausgedörrt.
Annika.
Wie groß war bitte die Wahrscheinlichkeit, sie hier zu treffen? Er schüttelte den Kopf und füllte sein Glas erneut. Er hatte nie im Leben damit gerechnet, sie heute Abend hier zu treffen. Neben ihr zu sitzen. Händchenhaltend im Regen durch den Wald zu spazieren.
Was war eigentlich in ihn gefahren?
Nachdenklich starrte er auf das Glas in seiner Hand. Er leerte es in einem Zug, stellte es in die Spülmaschine und verließ die Küche. Als er aus der Tür um die Ecke trat, wäre er beinahe in jemanden reingelaufen.
Annika.
"Oh, Entschuldigung", stammelte sie und blickte zu ihm auf. Erstaunt sah er sie an. Sie stand keinen halben Meter von ihm entfernt.
"Mein Fehler", murmelte er und schaute sie weiterhin an. Er traute sich nicht, einfach weg zu gehen ohne sich zu entschuldigen. Als er das das letzte Mal getan hatte, war sie ausgeflippt und hatte ihn förmlich angegriffen. Er schmunzelte innerlich beim Gedanken daran.
Es war dunkel hier im Flur. Vom Salon her war leises Lachen zu hören, der Wind sauste um das Haus.
Annika hatte unverwandt ihren Blick auf Nick gerichtet. Er trat einen kleinen Schritt näher auf sie zu.
"Ich...", fing sie an und zeigte auf die Küche hinter ihm. Er drehte sich um und sah sich über die Schulter, als könnte er sich nicht erinnern, wo er gerade her kam. Er wandte sich wieder ihr zu und sah sie fragend an.
"Ich wollte mir nur ein Glas Wasser holen", sagte sie leise und guckte ihm immer noch direkt in die Augen.
"Dann..." Er brach ab, als er plötzlich den leichten Duft nach Kokos bei ihr wahrnahm. Ihm gefiel der Duft.
"Ich..." Sie trat einen Schritt zur Seite um an ihm vorbei zu kommen, trotzdem berührte ihr Arm seinen ganz leicht. Er atmete tief ein, als sie hinter ihm verschwunden war. Der Duft nach Kokos saß ihm noch in der Nase, als er zögernd wieder in den Salon ging.
Er konnte sich nicht erklären, was das gerade gewesen war.
"Nicholas!" Matthew riss Nick aus seinen Gedanken. Er schnappte sich seinen Teller mit dem restlichen Kuchen und seine Kaffeetasse und ging zu ihm, der in einem anderen Sofa saß.
"Wir veranstalten Mittwoch eine Jagd bei uns. Ich würde mich sehr freuen, wenn du auch dabei wärst."
"Oh, das ist lange her, dass ich auf einer Jagd dabei war", erwiderte er ein wenig vage.
"Na, dann wird es doch Zeit!" Matthew klopfte ihm herzlich auf die Schulter. Nick lächelte ihn an. Er mochte Matthew wirklich sehr.
"Dann kann ich das Angebot auf keinen Fall ablehnen." Matthews Lachen erfüllte den Raum.
"Wusste ich es doch, freut mich!"
Als Nick lächelnd wieder wegschaute, fiel sein Blick sofort auf Annika, die soeben den Salon betrat. Er fragte sich, wieso nur sie plötzlich seine Aufmerksamkeit hatte.
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Spiel der Liebe
Teen FictionAnnika wächst bei ihren Großeltern in London auf, die alles darauf setzen sie zu einer richtigen Dame zu erziehen und sie auf formvollendeter Weise in die Gesellschaft einzuführen. Annikas Leben ändert sich jedoch schlagartig, als sie auf ein Intern...