Oh liebes London...

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Annika saß im Zug und schaute auf die Landschaft, an der sie vorbei fuhr. Nur wenige Wochen zuvor hatte sie genauso im Zug gesessen, nur war sie damals in die andere Richtung gefahren. Es schien als sei seitdem eine Ewigkeit vergangen. Sie wusste nicht wirklich, ob sie sich überhaupt auf ihr Zuhause in London freute. Ihr Opa würde sie willkommen heißen, keine Frage, aber wie die Laune ihrer Oma war, wussten nur die Götter.

Und was sie erwartete, war auch ungewiss. Ihre Oma hatte sicherlich schon tausend Pläne gemacht, und Annika würde erst davon erfahren, wenn sie mitten drin stand.

Mit Unbehagen kam die Erinnerung vom Vormittag in sie auf. Joseph Smith. Sie musste zu diesem Gottverdammten Ball und das mit einem Kerl, den sie nicht kannte. Und leiden konnte sie ihn jetzt auch schon nicht.

Sie holte den neuesten Krimi von Tana French heraus und schlug bei ihrem Lesezeichen auf. Zum Glück gab es im Dorf einen Bücherladen, mit einer relativ großen Auswahl. Schmunzelnd dachte sie wieder an Joseph. Es wunderte sie eigentlich, dass sie die Mentalität ihrer Mutter geerbt hatte und für den Reichtum ihrer Familie und anderer Bekannte nichts übrig hatte, obwohl Diana sie mit genau dem gegenteiligen Vorhaben erzogen hatte. Manche Sachen lagen also in den Genen, da konnte die Umgebung noch so viel versuchen, etwas zu ändern.

Beim ersten Stopp Richtung London ließ sie ihren Blick durch den Waggon schweifen, und beobachtete die einsteigenden Menschen. Genau bei der gleichen Haltestelle war Nick vor einigen Wochen eingestiegen. Hätte sie damals geahnt, wer er war... Wieder einmal wunderte es sie, wie viel sie an ihn dachte. Konstant geisterte er in ihrem Kopf herum. Das aber nicht im positivem Sinne. Und es ärgerte sie. Es ärgerte sie auch, dass sie und Nick so ein kompliziertes Verhältnis zueinander hatten. Denn irgendwo war sie sich sicher, dass sie und Nick eine erstklassige Handballbeziehung führen könnten. Wenn er nur nicht so stolz und arrogant wäre. Irgendwie erinnerte er sie an Mr. Darcy von Stolz und Vorurteil. Stolz, stur, arrogant, hart anderen gegenüber und anscheinend fehlerfrei. Vielleicht sollte sie anfangen ihn so zu nennen.

Der Zug fuhr ruckelnd weiter, und Annika vertiefte sich in die unheimliche Welt ihres Buches.

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"Annika! Liebes!", waren schon von Weitem die Rufe von Diana zu hören. Dass ihr selber nicht bewusst war, wie peinlich sie sich selber darstellte, wunderte Annika ungemein. Mit einem erzwungenen Lächeln schleppte sie sich selber und ihre Reisetasche zwischen der Menschenmenge zu ihrer Großmutter, die ihr die Arme ausgestreckt hatte. Nach einer kurzen Umarmung meinte sie: "Ich dachte nie, dass ich das sagen würde, aber ich habe dich tatsächlich vermisst, Annika!" Sie zwinkerte ihr zu und ging ohne Annikas Reaktion abzuwarten Richtung Parkplatz. Kopfschüttelnd folgte Annika ihrer Großmutter und wurde kurz darauf auch von Jeffrey zur Begrüßung umarmt.

"Wo ist Opa?", fragte sie, als sie sich ins Auto gesetzt hatte.

"Seine Gelenke schmerzen heute sehr", erklärte Diana knapp. "Er wartet Zuhause auf dich." Annika spürte deutlich, dass ihre Oma nicht mehr darüber reden wollte. Es tat ihr weh, dass William Gicht hatte. Zugeben würde sie dies jedoch nicht so einfach.

"Wie geht es dir, Oma?", fragte Annika stattdessen und blickte zu der extrem feinen Dame neben ihr.

"Wie soll es mir schon gehen?", fragte sie zurück. "Eine Tochter zu haben, die gerade zum vierten Mal geheiratet hat, bereitet nicht gerade Freude", fuhr sie bitter fort. Annika verdrehte innerlich die Augen. Ihre Oma sollte langsam darüber hinweg kommen, dass ihre Tochter alles andere als das geworden war, was sie sich erhofft hatte.

"Wenigstens heiratet sie jedes Mal den gleichen Mann...", versuchte Annika die Laune ihrer Oma zu verbessern. Diese schnaubte jedoch nur und schaute aus dem Fenster. Nach einigen Minuten der Stille, hielt Jeffrey an und Diana forderte Annika auf, mit ihr aus zu steigen. Verwirrt tat Annika dies und fand sich im Londoner Trubel wieder.

"Ähm, Oma?", fragte sie vorsichtig, als sie ihren Mantel enger um sich zog. Der Herbst hatte in London Einzug gehalten, und der eisig kalte Wind war nur ein Beweis dafür.

"Ach Annika, immer so verwirrt! Ich hatte dir doch schon gesagt, dass wir deine Abendgarderobe auffrischen!" Diana schaute sie irritiert an und wandte sich dem Geschäft zu, vor dem sie standen.

"Jetzt? Ich bin kaum angekommen!", beklagte sich Annika, doch Diana war schon längst zur Tür herein. Genervt folgte Annika ihrer Oma. All die Selbständigkeit, die sie letzten Wochen in Carmelot aufgebaut hatte, verschwand mit einem Mal. Wenn sie mit ihrer Großmutter zusammen war, übernahm sie einfach die Führung ohne Rücksicht auf irgendetwas zu nehmen. Ihr sollte doch klar sein, dass sie viel lieber nach Hause zu ihrem Opa und sich ein wenig ausruhen wollte, anstatt gleich die Anziehpuppe zu spielen.

Sobald sie das Geschäft jedoch betreten hatte, schlich sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen. Sie liebte dieses Königreich aus edlen Abendkleidern in allen Formen und Farben - Chiffon, Satin, Seide, Glitzer, Perlen, Bänder und Spitzen. Hier mit der Kreditkarte ihrer Oma zu sein, machte ihr in diesem Moment tatsächlich nichts aus.

Diana hatte bereits ihre Ankunft beim Empfang gemeldet und schon wurden sie von einer Angestellten in den ersten Stock gebracht. Annika betrachtete auf dem Weg bewundernd die vielen schönen Kleider.

"Du brauchst einige schlichte kurze Kleider und natürlich auch ein langes. Soweit ich weiß bist du zusammen mit Daphne und Matthew zu einem Ball eingeladen." Annika nickte nur und wunderte sich, woher ihre Oma das wusste und sie nicht.

"Oma, im November findet in der Schule ein Ball statt, vielleicht...", fing Annika an.

"Oh ja, dafür brauchst du auch unbedingt ein neues Kleid!", beendete Diana ihren Satz und Annika grinste leicht. Wenn es etwas gab, dass Diana liebte, dann schöne Kleider. Das war wahrscheinlich die einzige Gemeinsamkeit, die sie mit ihrer Oma teilte. Aber eine hervorragende Gemeinsamkeit.

"So, zieh dich schon mal aus, ich hole die Kleider!", kommandierte Diana auch schon, als sie bei ihrem zugeteilten Abteil ankamen, wo neben einer Umkleidekabine auch ein schickes Sofa für Begleitende stand. Die Angestellte schaute ein wenig überrascht, aber Diana wählte stets Annikas Abendkleider aus. Und Annika musste sich eingestehen, dass ihre Oma was dies betraf, einen außerordentlich guten Geschmack hatte. Dass Annika auch willig alle Kleider mit der größten Begeisterung entgegennahm, machte Diana die Sache sowieso interessanter und spaßiger.

Annika zog sich aus und wartete einige Minuten auf ihre Oma und die Angestellte. Die kamen kurz darauf schon mit einer ganzen Ladung Kleider. Annika probierte einige kurze Kleider und schon nach wenigen Versuchen wurden drei davon ausgewählt. Von Diana natürlich. Annika war aber mit der Wahl zufrieden.

Bei den langen Kleidern fiel es ihnen schon schwerer. Nach dem vierten Kleid, dass nicht ordentlich gesessen hatte oder Annika einfach nicht stand, versuchte sie es mit dem letzten Kleid, ein bordeaux-rotes, eng anliegendes Kleid aus mattem Satin. Annika fühlte sich wohl darin und trat aus der Umkleidekabine. Als sie ein zufriedenes Seufzen ihrer Oma wahrnahm, wusste sie schon, dass dieses Kleid hiermit bald ihres wäre.

"Das ist einfach perfekt!", träumte Diana vor sich und klatschte einmal in ihre Hände. "Aber wir brauchen noch eins. Kommen Sie", herrschte sie die Angestellte an. "Wir holen weitere Kleider!" Energisch schritt Diana voraus und die Angestellte rann ihr förmlich hinterher. Annika grinste und betrachtete sich im großen Spiegel, der neben der Umkleidekabine angebracht war. Sie drehte sich ein wenig, um auch ihren Rücken zu sehen. Zufrieden stellte sie sich wieder gerade hin und strich einmal über den Stoff, als sie hinter sich im Spiegel eine Person sah, die sie hier nicht erwartet hätte. Ihr Herz blieb kurz stehen und es schoss ihr noch durch den Kopf, dass sie bitte nicht bemerkt werden sollte, als hellblaue, kalte Augen im Spiegel auf ihre trafen.

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Ja ganz Recht, ich melde mich auch mal wieder zu Wort ;) Aber jetzt habe ich sowohl meine Abschlussprüfungen, als auch einen tollen Urlaub hinter mir - und somit habe ich wieder Zeit mich dem Schreiben zu widmen.

Sagt mir, was ihr davon haltet, votet und spekuliert gerne :) :) :)

Tyskerfie <3

Spiel der LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt