Verdammte Ehrlichkeit

30K 1.6K 189
                                    

Annika lag auf der Couch im Gemeinschaftsraum der zweiten Jahrgangsstufe und versuchte die Schullektüre zu lesen, die sie in der Hand hielt. Doch sie verstand gar nichts. Immer und immer wieder las sie den gleichen Absatz, da ihr Gehirn nicht in der Lage war, zu kapieren, worum es darin ging.

Frustriert legte sie das Buch auf den Couchtisch neben ihr ab und starrte an die Decke. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben so neben der Spur gewesen zu sein. Sie hatte weder ihre Gedanken, noch ihre Gefühle unter Kontrolle, sie schwebte in farblosem Nebel, außer Stande die Richtung zu bestimmen.

Seufzend nahm sie wieder das Buch zur Hand, schlug es auf und schnappte sich die als Lesezeichen funktionierende Karte daraus. Langsam wedelte sie sie hin und her, betrachtete die helle, glänzende Farbe, spürte das edle Material unter ihren Fingerspitzen.

Dann schlug sie die Karte auf und wie von alleine fanden ihre Augen die Stelle, nach der ihr Herz sich sehnte.

Nick B. - you owe me

Nicht zum ersten und auch nicht zum zweiten Mal betrachtete Annika die Wörter genauer. Mit ihrem Finger fuhr sie die schöne Schrift nach und stellte sich dabei vor, wie die Worte von Nick ausgesprochen wurden. Ob er es sanft oder doch eher neckend sagen würde. Wie er keinen Widerspruch dulden würde.

Mit einem unwohlen Bauchgefühl schloss Annika die Augen und sah Nick vor sich, dessen schwarzen Haare einen nahtlosen Übergang zu der Dunkelheit um ihn herum schafften.

Er hatte ihr gestanden, dass er sich in sie verliebt hatte.

Der Gedanke daran ließ ihr Herz freudig hüpfen, gleichzeitig zog es sich schmerzhaft zusammen. Er hatte sich ihr geöffnet wie nie zuvor. Und sie war nicht in der Lage gewesen, einen anständigen Satz zusammen zu bringen.

Es musste ihn immense Überwindung gekostet haben, ihr die Wahrheit zu sagen, ihr so ehrlich gegenüber zu treten. Sie bewunderte ihn für den Mut, den sie nicht hatte aufbringen können.

Sie musste zugeben, dass sie sich ein Liebesgeständnis von ihm irgendwie anders vorgestellt hatte. Trotzdem war es das schönste Liebesgeständnis gewesen, das sie je zu hören bekommen hatte. Und mit ihrer Vergangenheit war es vielleicht gar nicht so abwegig, dass sie sich in einem Streit, einem Wortgefecht näher als je zuvor kamen.

Beschämt legte sie die Tanzkarte in ihre Buch zurück und starrte vor sich hin. Sie wusste, dass der nächste Zug von ihr kommen musste. Er hatte ihr seine Gefühle gestanden, jetzt war sie an der Reihe darauf etwas zu erwidern.

Sie hatte sich auch in ihn verliebt. Er sollte das wissen. Nur war sie sich nicht sicher, wie sie ihm das beibringen sollte.

Ihm nachzurennen war am Montag keine Option gewesen. Ihm jetzt einfach zu schreiben, wie sie fühlte oder sich wie aus dem Nichts mit ihm zu treffen, um ihm ihre Liebe dazulegen war auch keine Möglichkeit. Es würde gestellt und unehrlich rüberkommen. Als würde sie es nur aus reiner Höflichkeit sagen.

Sie hatte für das erste ihre Chance vertan, ihn für sich zu gewinnen.

Was dachte er jetzt nur von ihr? Sie hatte ihn angegriffen und ihn Dinge beschuldigt, die ihr jetzt so abwegig vorkamen. Wie hatte sie Raphael auch nur für eine Sekunde Glauben schenken können? Sie hatte doch tief in ihrem Herzen wissen müssen, dass seine ungehörigen Beschuldigungen nicht der Wahrheit entsprachen. Wieso hatte sie Nick damit konfrontiert? Hatte sie die Brücke zwischen ihnen, die so langsam und mühsam im Laufe der letzten Wochen erbaut worden war, einfach zerstört?

Voller Elan ging die Tür zum Gemeinschaftsraum auf und Caro kam herein stolziert. "Da bist du ja!", lächelte sie breit und setzte sich zu ihr. "Was machst du?"

Spiel der LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt