Annika schaute aus dem Fenster des Schnellzuges. Die grünen Laubbäume huschten an ihr vorbei. Schon nach wenigen Sekunden lagen sie weit hinter ihr.
Seufzend wandte Annika sich vom Fenster weg und schaute auf die Uhr. Noch eine knappe Stunde, dann würde sie endlich da sein. Sie kramte in ihrer Tasche herum und holte ihr iPhone und ein Buch hervor. Sie drückte sich Stöpsel in die Ohren, machte Musik an und begann in ihrem Buch zu lesen. Unwillkürlich musste sie jedoch an den Tag denken, an dem ihre Oma ihr erzählt hatte, dass es mit dem Stadtleben vorbei war. Sie hatte in dem rosa Sofa ihrer Großmutter in demselben Buch gelesen, wie jetzt.
Es war ein schöner Nachmittag gewesen, goldene Sonnenstrahlen hatten das Wohnzimmer, in dem sie saß, durchflutet. Diana Cullum hatte lautlos das Zimmer betreten, kerzengerade im Türrahmen gestanden und Annika in ihrer gelangweilten Stellung, wie sie es interpretierte, betrachtet.
"Annika! Wie liegst du da? Das ist eine sehr unschickliche Haltung für eine junge Dame!" Dianas strenge Stimme schnitt durch die Luft.
"Oh, Großmama!" Annika schreckte hoch. "Entschuldige bitte, ich war so in mein Buch vertieft, ich habe gar nicht gemerkt, wie ich gelegen, äh, gesessen bin..." Als Annika sich aufrappelte und sich unter dem zufriedenen Blick ihrer Oma ordentlich hinsetzte, verdrehte sie unbemerkt ihre Augen, ohne dass ihre Großmutter es bemerkte. Sie hasste die Strenge ihrer Oma. Immer ging es darum, was für eine Frau schicklich war oder nicht. Das konnte doch egal sein, solange man alleine war! Außerdem interessierte sich im einundzwanzigsten Jahrhundert sowieso niemand dafür, außer, Annikas Meinung nach, ihre Oma.
"So ist es besser", sagte Diana, als Annika mit geradem Rücken und aneinander geschmiegten Beinen auf dem antiken Möbelstück saß. Ihre Großmutter ging mit kleinen Schritten zu einem der großen Fenster und betrachtete die vielen unter ihr vorbeifahrenden Autos.
"Ach, diese schreckliche Stadtluft! So unsauber und schädigend. Meinst du nicht auch, Annika, dass ein wenig Landluft keinem schaden würde?", fragte Diana, ohne ihren Blick von der Straße abzuwenden. Zu dem Zeitpunkt hatte Annika die Andeutung ihrer Oma noch nicht verstanden.
"Doch, sicherlich, Großmama", antwortete Annika, ohne dass sie aufhörte zu lesen.
"Ich habe etwas für dich, Annika." Diana drehte sich um und schaute ihr Enkelkind eindringlich an. Erst jetzt bemerkte Annika, dass ihre Großmutter etwas in der Hand hielt. Sie nahm das Faltblatt entgegen, als ihre Oma es ihr reichte. Schon als sie den Titel las, machten sich böse Vorahnungen in ihr breit.
"Die Carmelot Schule -Ein Internat für wohlerzogene junge Frauen"
Annika betrachtete kurz das Bild von dem Schulgebäude, blätterte dann um. Einige Sätze sprangen ihr sofort ins Gesicht.
...zu schicklichen Frauen erziehen... Manieren üben... besten Erziehungsmaßnahmen... richtige Ladies...
"Du willst mich in ein Erziehungsinternat stecken?", fragte Annika mit leicht zitternder Stimme. Das war doch nicht ihr Ernst!
"Nenne es wie du willst. Und ja, es ist mein größter Wunsch, dass du dort deinen Abschluss machst. Du wirst dort eine hervorragende Ausbildung genießen können und gleichzeitig lernen, dich wie eine schickliche junge Dame zu benehmen."
Annika konnte ihre Gefühle nicht beschreiben, die sich zu rühren begannen. "Aber Großmama, ich habe nur noch ein Jahr in der Schule hier in London übrig, wieso soll ich für mein letztes Schuljahr die Schule wechseln?" Annika schaute ihre Oma immer noch nicht an.
"Ach, Annika! Stell keine Fragen, bevor du dich nicht ausreichend informiert hast! Die Leute betrachten dich sonst als sehr wenig begabt!", tadelte Diana. Annika verstand den Wink und begann das Faltblatt sorgfältiger zu lesen. Ihre Hände zitterten leicht, als ihre Augen über die Buchstaben flogen.
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Spiel der Liebe
Teen FictionAnnika wächst bei ihren Großeltern in London auf, die alles darauf setzen sie zu einer richtigen Dame zu erziehen und sie auf formvollendeter Weise in die Gesellschaft einzuführen. Annikas Leben ändert sich jedoch schlagartig, als sie auf ein Intern...