Mit einer inneren Leere erfüllt, joggte Annika am Sonntag durch den Wald. Der Kies und die Erde unter ihren Füßen knirschten bei jedem Schritt. Die kalte Luft, die sie einatmete, tat ihr gut. Beruhigte sie ein wenig. Die dünne Schneeschicht, die noch liegen geblieben war, strahlte Souveränität und Gelassenheit aus – das genaue Gegenteil ihrer Gemütsverfassung.
Sie lief und lief, trieb sich selber an ihre Grenze, gab nicht auf, kämpfte weiter. Erst als sie fast schon röchelnd nach Luft schnappte, senkte sie ihr Tempo, bis sie nach einigen Minuten ganz zum Stehen kam.
Schwer atmend stützte sie sich mit einer Hand an einem Baum ab, mit der anderen auf ihrem Knie; vornüber gebeugt versuchte sie ihren Herzschlag zu beruhigen.
Immer und immer wieder sah sie Nick vor ihrem geistigen Auge, wie er sie zärtlich und liebevoll ansah. Sie spürte seine Berührungen, seine Lippen auf ihren. Und sie versuchte dieses Gefühl mit aller Macht zu verdrängen, die Schmetterlinge in ihrem Bauch zu unterdrücken.
Sie war hin und her gerissen, verwirrt und verzweifelt. Und sie wusste nicht, was sie denken sollte, was der Wahrheit entsprach und was nicht.
Eines wusste sie aber mit Sicherheit: Sie konnte ihre Gefühle für Nick nicht unterdrücken. Nicht mehr, dafür waren sie zu ausgeprägt.
Aber sie konnte sie verleugnen, wenn Raphael tatsächlich mit seiner Vermutung Recht gehabt hatte. Und so schien es.
Nur fand Annika, dass sie sich nicht zu hundert Prozent sicher sein konnte. Nick hatte Raphaels Behauptung ja nicht eins zu eins zugegeben. Aber seine Andeutungen, als sie über die Eifersucht gesprochen hatten, gaben ihr das unglückliche Gefühl, dass Nick wirklich so überheblich und kaltherzig war.
Diese Erkenntnis tat weh. Sie tat verdammt weh, und mit schmerzendem Herzen richtete Annika sich wieder auf. Durch das Joggen einen freien Kopf zu bekommen, klappte nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Ihre Gedanken kreisten nämlich nur noch um Nick, den Kuss, den Streit und die komische Situation nachher. Kein Wort hatten sie miteinander geredet, keinen Blick ausgetauscht. Sie hatte auch bis jetzt kein Sterbenswörtchen darüber verloren, zu niemandem. Sie fühlte sich einfach nicht bereit, darüber zu reden. Den Kuss und ihre Abweisung noch einmal zu durchleben.
Sie hätte Nick wahrscheinlich zu Ende reden lassen sollen, aber sie war im Moment so wütend gewesen, dass sie sich von ihm nicht um den Finger wickeln lassen wollte.
Sie stand an den Baum gelehnt, bis die Kälte in ihre Knochen gekrochen war. Beim Laut sich nähernder Schritte, schreckte sie auf und versuchte zu lokalisieren, woher das Geräusch kam. Durch die kahlen Bäume konnte sie weit entfernt, eine Gestalt ausmachen, dich langsam in ihre Richtung lief.
Da sie keine Lust hatte, auf andere Menschen zu treffen, begann sie ihre Strecke zurück zur Schule zu laufen. Immer wieder sah sich über die Schulter, doch die Person von vorhin kam nicht näher.
Nach einer halben Stunde sperrte sie die Tür zu ihrem Zimmer auf und sah, dass die anderen Mädchen immer noch schliefen. Wäre Annika gefühlsmäßig nicht so aufgewühlt gewesen, hätte sie wahrscheinlich auch länger als nur bis halb acht geschlafen.
Leise ging sie ins Bad, entledigte sich ihrer Kleider und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser war so warm, dass sie sich fast verbrannte, doch sie entspannte sich mehr und mehr. Sie wusch sich nicht nur den Schweiß vom Körper, sondern auch die ganze Verwirrung von ihrer Seele.
Es brachte nichts, jetzt zu viel zu grübeln. Damit konnte sie auch keine Probleme lösen. Also versuchte sie einfach an nichts, was mit Nick zu tun hatte, zu denken. Heute hatte sie auch einen Berg an Hausaufgaben zu erledigen – zur Abwechslung einmal eine willkommene Ablenkung.
DU LIEST GERADE
Spiel der Liebe
Teen FictionAnnika wächst bei ihren Großeltern in London auf, die alles darauf setzen sie zu einer richtigen Dame zu erziehen und sie auf formvollendeter Weise in die Gesellschaft einzuführen. Annikas Leben ändert sich jedoch schlagartig, als sie auf ein Intern...